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zu Besuch bei Anja Marschall

Heute bin ich mit dem Skoutz-Kauz zu Besuch bei Anja Marschall, die zumindest ihrem Lebenslauf zufolge eine sehr umtriebige Persönlichkeit ist, die also durchaus aus eigener Erfahrung ihre Abenteuer beschreibt.

Mit “Tod in der Speicherstadt” ist Anja Marschall ein wunderbar spannender Historienkrimi gelungen, der es prompt auf die Midlist History des Skoutz-Awards geschafft hat. Ich bin sehr gespannt, was für ein Mensch Anja ist.

Lassen wir uns überraschen.

 

Zu Besuch bei Anja Marschall, die mit preussischer Disziplin arbeitet

Beschreibe dich mit einem Wort

Anja Marschall Autorenbild

Lustig

Lach! Das geht ja schon sehr schön los. 

 

 

Beruf oder Berufung?

Eindeutig beides! Es ist mein Brotberuf und ich verdiene damit mein Leben.

Das ist ja ein Zustand, von dem sehr viele Kollegen (noch) träumen. Und was ist die andere
Seite?

Das Leben aber wäre ohne Farben, wenn ich der Berufung zu diesem Beruf nicht gefolgt
wäre. Ich kann mir kein anderes Leben vorstellen, als Bücher zu schreiben und mit Menschen
darüber in Kontakt zu kommen, egal wie.

So wie mit mir gerade. Lass uns die Beginne beleuchten.

Wann hast du dein erstes Buch veröffentlicht und wie lange hast du daran geschrieben?

2012 erschien mein erster historischer Krimi „Fortunas Schatten“ (der übrigens vom Emons Verlag unter neuem Titel nächstes Jahr neu aufgelegt wird, jeah).

Gratuliere! Und wie lange hast du gebraucht? Bei Historienromanen hätte ich immer Angst vor der Recherche …

Ich habe auch wie eine Blöde an „Fortunas Schatten“ recherchiert. Fast vier Jahre.

Oh Gott!

Ein klassischer Anfängerfehler bei historischen Büchern, wenn man es ernst meint. So kam ich vom Hölzchen aufs Stöckchen. Ich schätze, damals habe ich 200 % mehr recherchiert, als ich im Buch verwenden konnte. Heute, glaubt mir, mache ich das anders.

Solange der Infotainment-Gedanke, auf den ich bei diesem Genre so stehe, erhalten bleibt, bin ich als Leser da sehr großzügig. Ich finde es nur so schön, wie Kollegin Annette Oppenländer sagt, dass man spannend vermittelt bekommt, was man in der Schule hätte lernen können.

Aber wenn du heute nicht mehr in Recherche-Exzessen versinkst, wie machst du es heute?

 

Wie läuft ein typischer Tag als Autor bei Anja Marschall ab?

Ich befürchte, dass ich mich da ganz in der Tradition der schrägen Weltliteraten wie Thomas Mann oder Ken Follett bewege.

Ja?

Tatsächlich unterscheiden sich die Schreiballtage nicht sonderlich. Wir stehen auf, frühstücken, setzen uns an den Schreibtisch, essen zu Mittag, schreiben oder recherchieren und stehen um 16 Uhr vom Schreibtisch auf, um nicht dem Wahnsinn zu verfallen. Am Abend werden Fachbücher gelesen – das gilt für historische Projekte – oder Bücher von Kollegen. Dann Licht aus und im Halbschlaf sinnieren, wie der eigene Text am nächsten Morgen weitergehen soll.

Das klingt jetzt sehr diszipliniert und im Fahrwasser der Beständigkeit. Improvisiert wird  a weniger?

Improvisieren? Nein! Never! Der Leser hat ein Recht auf eine professionelle Geschichte, die dem Autor zuvor das Beste und eine Menge Angstschweiß abverlangt hat. Weniger sollte die Leser nicht akzeptieren, denn schließlich geben Sie ihr Geld und ihre Lebenszeit dafür.

Mit dem Anspruch des Lesers (und des Autors, diesem zu entsprechen), stimme ich dir vollkommen zu. Aber warum soll ein Buch, das bei “Gelegenheit” geschrieben wird und nicht täglich von 9-5, weniger Qualität bieten oder weniger Schweiß gekostet haben? Improvisation entsteht zum Beispiel bei mir, weil ich neben Leben und Hauptberuf, nur zum Schreiben komme, wenn ich
spontane Gelegenheiten beim Schopf packe. Weil ich auch gegen äußere Widerstände schreiben will. Ich bin da vielleicht weniger Mann und mehr Kafka, weniger Follet und mehr Oscar Wilde. 🙂

Aber wie hältst du es in diesen verrückten Zeiten mit der Routine?

 

Wie sehr beeinflusst Corona deinen Schreiballtag?

Erstmals habe ich gemerkt, wie sehr ich Künstlerin bin. Obwohl ich in meinem Dorf nahe Hamburg gar nicht direkt von Corona betroffen bin, außer eine selbstgenähte Maske zu tragen – was stets zum Beschlagen meiner Brillengläser führt! – und Abstand zu halten, könnte man meinen, dass sich nichts geändert habe.

Da verspüre ich ein aaaaber …?

Und dennoch: die Gedanken laufen auseinander wie geschmolzene Butter in der Sommersonne. Ich musste meine Kreativität in den letzten Tagen wieder einfangen, zurück zur Disziplin kommen, mir Tagesziele setzen und den Zustand der Verwirrung über die Welt und ihre Menschen neu bewerten. Irre Zeiten, die auch an Künstlern nicht spurlos vorbeigehen.

Wie auch, war Kunst doch seit jeher Spiegel der Gesellschaft und die Künstlerseele die Spiegelfläche.

Aber ich gebe noch nicht auf, dir eine chaotische Seite zu entlocken …

 

Kreativ oder doch eher regeltreu? Wie flexibel bist du beim Schreiben?

Ich bin ein klarer Fall von Preußentum. Disziplin. Ich habe eine gute Idee? Super! Schnell im Café, in der Bahn, in der Kneipe oder sonst wo skizzieren.
Das ist ja schon mal improvisiert, spontan! Ha! Und wie geht es weiter?

Ich ahne, dass du da jetzt ein Prüf- und Schreibschema hast, um dessen Befolgung dich viele Kollegen glühend beneiden. Also, was kommt nach der Skizze?

Dann liegenlassen. Ist die Idee dann noch immer gut? Super! Ausformulieren. Liegenlassen. Noch immer gut? Super! Jetzt mit Experten besprechen und bei der Agentin vorfühlen, ob ein Verlag Interesse haben könnte.

Unterstellt, er hat?

Exposé schreiben, Figuren entwickeln und erste Szenen aufsetzen. Liegenlassen. Funkt die Idee auch bei anderen? Super! Jetzt Excel aufmachen und Szene für Szene bis zum Ende festlegen. Klingt alles schlüssig? Super! Leseprobe schreiben und Agentin schicken.

Ich nehme an, du plottest dann auch eher gründlich?

Seit ich schreibe, habe ich stets mit Szenenlisten gearbeitet, die auch im Laufe des Schreibens kaum umgestellt werden. Warum? Weil sie mein Rückgrat sind und ich beim Schreiben meine Kreativität der Sprache und den kleinen Dingen widmen kann, statt ständig darüber nachdenken zu müssen, ob das große Ganze zusammenpasst.

So eine Art Grundgerüst, dass die Fantasie beim Schreiben auf Spur hält, haben tatsächlich die meisten Kollegen.

Du hast vorhin erwähnt, dass du abends gern auch mal liest …

 

Welches war dein erstes selbstgelesenes Buch? Und hast du es heute noch?

Pippi Langstrumpf. Und ja, ich habe es noch, weil ich mir wünsche, das meine Kinder mehr Pippi sind, als ich es früher sein durfte.

Das ist schön! Pippi ist für erstaunlich viele Kollegen tatsächlich das Kinderbuch, dass sie bei dieser Frage immer wieder erwähnen. Mila Olsen und Hannah Sternjakob zum Beispiel.

 

Stell dir vor, du könntest eine beliebige Figur aus einem Buch zum Essen treffen. Was würde passieren?

Oh, da gibt es viele. Die Dinnergesellschaft würde recht groß werden.

Das verstehe ich gut. Wäre bei mir genauso. Wer bekäme den Ehrenplatz an deiner Seite?

Anfangen würde ich sicherlich mit Mr Holmes und Mr Watson.

Dann könnten wir da gleich noch den Kollegen André Wegmann mit dazu nehmen. Der wollte Holmes auch interviewen. Was wären deine präferierten Themen?

Wir würden über Logik reden und die Frage, ob Soziopathen die besseren Menschen sind.

Eine interessante Frage, bei der ich mich vor der Antwort fürchten würde.
Andere Frage …

 

Auf welche Frage hattest du in letzter Zeit keine Antwort und hast du sie finden können?

Unsere Zeit wirft momentan so viele offene Fragen auf, die ich so gerne via Buch beantworten würde. Manches klappt, vieles nicht. Ich habe den Eindruck, derzeit zerbricht die Welt. So, wie sie es Mitte des 20. Jh. schon einmal tat. Als Schriftstellerin möchte ich versuchen, Antworten zu geben, selbst wenn sie in meinen Büchern zwischen den Zeilen stecken und nicht medial-plakativ daherkommen.

Das schleichende, nachwirkende Gift zwischen den Zeilen ist meines Erachtens aber auch die mächtigste Waffe des Schriftstellers. Aber ich weiß gar nicht, ob der Bruch nun nicht sogar deutlich tiefer gehen wird, als der letzte.

 

Wie oft schaust du täglich auf dein Handy?

Zu oft. Und ich habe nicht den Eindruck, dass es mir danach besser geht.

Dann kommen wir zur nächsten Frage und vertiefen das nicht weiter …

 

Was darf in deinem Kühlschrank niemals fehlen?

Sahne und Schokolade

Schokolade ist ein absoluter Dauerbrenner im Autorenkühlschrank. Ups. Wobei Brennen im Kühlschrank jetzt nicht so geglückt ist. 😉  …

 

Für welche drei Dinge in deinem Leben bist du am dankbarsten?

Meinen Optimismus, dass es immer weitergehen wird.

Den kannst du im Moment gut brauchen.

Meine Stärke, damit es immer weitergehen kann.

Die können wir im Moment gut brauchen.

Und all die vielen guten Menschen und Dinge, die mir begegnen, weil es weitergeht.

Und weil sie es genauso halten. Das klingt nach einem sehr inspirierenden Ansatz, vielen Dank für diese schönen, weisen Worte.

Jetzt kommt meine Lieblingsfrage an die Historiker…

 

Zeitreisen – bei welchem historischen Ereignis wärst du gern dabei gewesen?

Der Tag, an dem der deutsche Tüftler Johann Philipp Reis die allerersten Worte in einen Fernsprechapparat sprach: „Das Pferd frisst keinen Gurkensalat.“ Es war 1861 in Frankfurt am Main. Die Gesichter der ehrenwerten Mitglieder des Physikalischen Vereins hätte ich  zu
gerne gesehen, die Reis´ Stimme aus der eigentümlichen Maschine hörten.

Wobei ich mich als alter Reiter immer noch frage, wie er darauf kommt. Mein Pferd liebt Gurken, gern auch als Salat, wenn ich es lassen würde. Aber war nicht Bell der Telefonmann?

Graham Bell, der als der eigentliche Erfinder gilt, meldete erst 10 Jahre später das Patent dazu an. Seine sehr viel weniger kreativen Worte waren: „Watson, come here. I need you.“

Und warum wärst du da gerne dabei gewesen?

Weil in diesem Augenblick die Weltgeschichte einen anderen Weg nahm, an dessen Folgen wir heute noch zu knabbern haben.
Faszinierend!

Ja. Ebenso in dem Moment, als die Glühbirne erfunden wurde und wir endgültig Herr über das Licht wurden. Diese Erfindermomente sind wirklich gute Besucherpunkte. Da muss ich mal noch ein wenig grübeln.

 

Über welches Thema könntest du eine 30-minütige Präsentation halten, ohne jede Vorbereitung?

Jedes! Berufene Geister, wie die Schauspielerin Ulrike Bliefert und andere, behaupten von mir, ich sei eine Rampensau. Locker bleiben! Das ist ein Kompliment und keine Beleidigung. Rampensau kommt aus dem Theater und meint jemanden, den du auf die Bühne stellst und der/die macht es schon.

Ich habe Rampensau auch nie als Beleidigung empfunden. Unsere Jurorin Mari März kokettiert regelrecht damit. Wir müssen mal einen Workshop machen und dann lassen wir dich mit Dirk van den Boom antreten, der sagt auch, dass er jedes Thema in den Griff bekommt. So als Politologe.

 

Was würdest du rückwirkend ändern, wenn du die Möglichkeit dazu hättest?

Ich hätte gerne als Kind eine richtige Familie gehabt. Aber dann wäre ich vielleicht niemals Autorin geworden.

Was wieder schade wäre. Lass uns zum Schluss noch in die andere Richtung, nach vorne schauen …

 

Was wünschst du dir für die Zukunft?

Viele Leser, viele gute Geschichten und eine Welt, in der wieder die Vernunft regiert, damit wir Zeit zum Träumen haben.

Das wünschen wir uns alle.

Liebe Anja, vielen Dank für das sehr spannende Interview, die spannenden Einblicke in den Arbeitsablauf einer Vollzeit-Verlagsautorin und all die schönen Gedankenexperimente, die wir gerne mal fortsetzen können. Vielleicht bei der Übergabe des Skoutz-Awards? Ich würde
mich freuen! 

Dankeschön!

 

Wo können deine Leser dich erreichen?

 

Skoutz-Lesetipp:

Fortunas Schatten – Kriminalroman aus dem 19. Jahrhundert von Anja Marschall

Glückstadt an der Elbe, 1894 Er hat alles verloren: sein Schiff, seine Mannschaft, seinen Ruf. Kapitän Hauke Sötje steht vor dem Nichts. Ein ehrenvoller Tod scheint ihm der einzige Ausweg aus einer gescheiterten Existenz – doch zuvor will er in der Hafenstadt Glückstadt eine alte Schuld begleichen. Dabei wird er in einen Mordfall verwickelt. Einzig Sophie, die Tochter eines angesehenen Bürgers der Stadt, glaubt an ihn und seine Unschuld. Als Feuer und Intrigen die Stadt bedrohen, erkennen beide, wer Freund und wer Feind ist.

Skoutz meint: Historische Krimis haben den großen Vorteil, dass der Leser mit dem Helden in den Details der Zeit herumschnüffeln darf und so wunderschöne Eindrücke des Damals erhält. So ist es auch bei Fortunas Schatten, in der ein Kapitän unversehens in einen Mordfall verwickelt wird, der – auch wenn er unschuldig ist – irgendwie mit seinem persönlichen Schicksal zusammenhängt. Der Held ist stark gezeichnet, ohne ihn zu glatt werden zu lassen und der intelligente Gegenspieler ist ebenso fein ausgearbeitet, was immer einen Pluspunkt gibt. Die Zeitkolorit vermittelnde Sprache dürfte für heutige Schnellleser vielleicht gewöhnungsbedürftig sein, aber wer sich darauf einlässt bekommt wirklich das Gefühl, man könne das Salz in der Luft des alten Glückstadt schmecken.

Wenn euch das Buch gefällt, gibt es über unseren Affiliate-Link auf Amazon* eine Leseprobe (und natürlich einen Warenkorb).

HINWEIS: Aktuell ist das Buch nur antiquarisch zu erhalten.

Der 1. Fall von Hauke Sötjes wird aber im Mai 21 vom emons Verlag unter dem Titel „Feuer in der Hafenstadt“ mit einem neuen Cover neu aufgelegt. Bis Mai könnt ihr also „Fortuna“ antiquarisch kaufen, ab Mai dann als Neuauflage.

 

 

Und noch ein Lesetipp von Anja Marschall:

Feuer im Elysium: Kriminalroman von [Oliver Buslau]Feuer im Elysium – ein spannender Beethoven-Krimi von Oliver Bauslau

Kann eine Sinfonie die Freiheit bringen?

Als der junge Schlossverwalter Sebastian Reiser nach Wien gelangt, bereitet Ludwig van Beethoven gerade die Uraufführung seiner neunten Sinfonie vor. Die ganze Stadt fiebert dem Konzert im Kärntnertortheater entgegen. Doch die Aufführung ist umstritten – nicht nur bei den konservativen Musikenthusiasten, sondern auch bei verbotenen Burschenschaften. Reiser bekommt die Chance, im Orchester mitzuwirken, und gerät in ein gefährliches Geflecht aus Intrigen und geheimer Politik.

Skoutz meint: Vielen Dank für diesen Tipp, der gut zu unserer Midlist passt, bei der ja Beethoven durchaus eine Rolle spielt. Das Buch ist, soweit wir das anhand der Leseprobe sagen können, sehr spannend zu lesen, man ist – schwupps – mitten drin im vibrierenden Wien der Kaiserzeit und erhält nicht nur eine atmosphärisch dichte Schilderung der Musikwelt, sondern auch ein Gefühl über die Grenzen dieser Zeit, die heute nur noch schwer vorstellbar sind.

Wer sich das Buch wie wir näher anschauen will, kann dies gern über die Verlagsseite* tun.

 

Hinweis:

Tod in der SpeicherstadtVorjahres-Siegerin Anna Castronovo  war auf einen Streifzug durch die Jahrhunderte und hat uns Geschichten aus allen Zeiten mitgebracht. Die Auswahl zu Ihrer Midlist History aus den über 200 Titeln der Longlist History 2020 hat sich Anna nicht leicht gemacht und ist hochwissenschaftlich und unter Ausnutzung statistischer Daten an diese epochale Aufgabe herangegangen.

Tod in der Speicherstadt ist einer dieser Kandidaten. Das im Oktober 2019 bei Emons verlegte Buch aus der Feder der in historischen Romanen versierten Autorin Anja Marschall erzählt einen Mordfall aus dem Hamburger Schmugglermilieu des 19. Jhdt. Ob es sich bis ins Finale schmuggeln kann, bleibt aber weiterin spannend.

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