Intertextualität

Skoutz-Wiki: Intertextualität

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Ein vergleichsweise neuer Begriff in der Literaturwissenschaft ist Intertextualität. Er klingt nicht nur gelehrt, sondern scheint tatsächlich auch das Abschreiben von Vorlagen geradezu zu adeln. Wie es das geben kann und was dahinter steckt, haben wir uns daher mal genauer angesehen.

Intertextualität in Kürze

Simpel gesagt ist Intertextualität der Bezug von Texten auf Texte. Bekannte Formen sind Zitat, Parodie, Anspielung, Hommage und Adaption.
Genauer verbirgt sich dahinter die These, dass es keinen originalen Text gibt, weil in jedem einzelnen sich Lese- oder Hörerfahrungen anderer Werke niederschlagen. Sei es beim Themen, bei der Vorstellung wie etwas zu sein hat oder auch wie man etwas formuliert. Alles ist also irgendwie von etwas anderem mindestens inspiriert. Die Grenze zum Plagiat wird dort überschritten, wo die Urheberschaft eines Textes einklagbar wird.
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Intertextualität ausführlich

Aufgebracht hat das Wort in den 70er Jahren die bulgarische Philosophin Julia Kristeva, um die unmittelbaren und vor allem mittelbaren Einflüsse von Texten auf andere auszudrücken. Er sollte bewusst provozieren, um die „Echtheits-Debatte“ der traditionellen Literaturwissenschaft zu sprengen und zu präzisieren. Für Kristeva ist jeder Text ein „Mosaik von Zitaten“. Im „Raum eines Textes überlagern sich mehrere Aussagen, die aus anderen Texten stammen und interferieren“.

Der Bezug im weitesten Sinne

Damit ist im weitesten Sinne jeder Text irgendwie nur eine neue Zusammensetzung von älteren, die wiederum von noch älteren beeinflusst wurden, bis wir irgendwann im Neandertal in der Höhle stehen und die Grenze zwischen Grunzlaut und Sprache ziehen. Das ist insofern richtig, als Sprache ja nichts individuelles, sondern ein gesellschaftliches Phänomen ist, das sich nur im Austausch mit anderen entwickelt. Sprache hat auch ihre Geschichte, wie man an Worten wie „geil“ oder „Negerkuss“ schön sieht. Neue Worte entstehen, wo sich Bedarf auftut, wie etwa „Wutbürger“, die als Gemeingut begriffen werden, ohne dass sich ernsthaft die Frage nach dem Urheberrecht stellt.

Wenn also alles irgendwie intertextuell ist, warum regt man sich dann über Plagiate auf und verlangt Originalität?

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Intertextualität etwas enger gefasst

So einfach ist es natürlich nicht, dem steht schon das Urheberrecht entgegen. Ein anderer Definitionsversuch geht von Intertextualität dann aus, wenn der Autor sich des Einflusses anderer Texte bewusst ist, und auch von seinen Lesern erwartet, dass sie diese Beziehung erkennen und verstehen, dass diese offene Bezugnahme gewollt ist. Das ist sozusagen Kommunikation auf einer unausgesprochenen Metaebene.

Wenn Kay Noa in ihrem „Vampire Beginners Guide“ den distinguierten Obervampir genervt ausrufen lässt „… und wir glitzern nicht!“, ist das eine unausgesprochene Bezugnahme auf die „Twilight“-Reihe von Stephanie Meyers, die zu verstehen sie von ihren Lesern voraussetzt. Intertextuelle Passagen funktionieren also nur, wenn sie durch die Bezugnahme eine andere Bedeutung erhalten als sie vom bloßen Wortlaut her hätten. Wer Twilight nicht kennt, wird den Halbsatz günstigenfalls seltsam finden. Die Suche nach solchen Passagen in einem Text kann sehr kurzweilig sein und trägt sicherlich zum besseren Verständnis unserer Sprach- und Symbolwelt bei.

Woher kommt es zum Beispiel, dass wir alle unter Zwergen ältere Männer mit Bart und Affinität zum Bergbau und seltsamen Kopfbedeckungen verstehen?

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Und viel Raum zwischen diesen Definitionen

Wirklich spannend sind jene Formen von Intertextualität, die nur unbewusst und beiläufig hergestellt werden. Wenn Zitate aus einem anderen Text unbewusst verwendet werden oder wenn versteckt, also manipulativ, Bezüge hergestellt werden sollen, deren sich der Leser nicht bewusst wird, wie z.B. in der Werbung. Man kann also sagen, Intertextualität setzt zumindest voraus, dass ein Leser einen Bezug zu einem konkreten anderen Text herstellen könnte.

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Intertextualität, Zitat und Anspielung

Intertextualität ist immer auch eine Anspielung, während umgekehrt die Anspielung nicht intertextuell sein muss, da sie sich auch auf Situationen oder ähnliches beziehen kann. Ein Zitat ist in der Regel intertextuell, da es ja gerade eine Bezugnahme aufdeckt. Da sie aber explizit angesprochen und nachgewiesen wird, würden wir das als Sonderform aus dem literaturwissenschaftlichen Begriff trotz technischer Ähnlichkeit ausgrenzen.

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Es gibt kein Entrinnen

Harald Bloom spricht bei seiner Betrachtung von Intertextualität von „Einflussangst„. Ausgehend von dem weiten Begriff beobachtet er bei vielen Autoren das stete Bemühen, sich von seinen Vorbildern zu befreien und möglichst entfernt von ihnen einen eigenen Platz zu finden. Damit wird der Einfluss jedoch nicht verringert, sondern verändert. Denn der Einfluss von etwas, das man vermeiden will, ist auf das Endergebnis nicht geringer als der von Dingen, die man imitiert. Bloom spricht daher von einem struggle between strong poets, weil jeder Autor, der etwas werden will, sich bewusst oder unbewusst mit seinen Vorbildern auseinandersetzen muss, indem er manches genauso und manches eben anders macht und uminterpretiert („fehlliest“).

Auch wenn Bloom dem Autor wieder mehr Einfluss auf seinen Text und dessen Bezüge zugesteht wie es die oben genannten Definitionen tun, bleibt es doch dabei, dass man dem Einfluss seiner Bildung nicht entkommt.

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Erkennungsmerkmale 

Der routinierte Leser wird solche Bezugnahmen erkennen. Das liegt daran, dass fairerweise ein ehrlicher Autor entsprechende Hinweise einstreut.

  • Nennung des Bezugstextes im Titel oder Untertitel
    Ein schönes Beispiel hierfür ist Nina McKays „Rotkäppchen und der Hipster-Wolf„. Auch deshalb, weil solche Markierungen generell bei Parodien sehr häufig sind.
  • Quellenangabe
    Während das bei wissenschaftlichen Arbeiten in der Regel in Form von Fuß- oder Endnoten mit akribischen Zitaten erfolgen muss, ist man in der Belletristik etwas flexibler. Im Impressum oder auch in der Danksagung, ebenso wie in speziellen Hinweisen werden hier die Bezugnahmen aufgedeckt.
  • Hervorgehobene Zitate
    Wenn Umberto Eco in „Der Name der Rose“ aus den Texten der Antike berichtet, großteils in lateinischer Sprache, so ist dem Leser, auch wenn er den Bezugstext nicht persönlich kennt, zumindest bewusst, dass es sich um einen Fremdanteil in Ecos Werk handelt.
  • Unmarkierte oder verdeckte Zitate
    Hier könnte man das bereits bemühte Beispiel im Vampire Beginners Guide nennen. Diese Zitate sind nur zu erkennen und zu verstehen, wenn der Leser den Bezugstext kennt.
  • Direkter Bezug auf den Bezugstext
    Wenn Gundel Limberg in ihrem Literaturthriller „Trink mich!“ die Protagonisten Passagen aus Carrolls „Alice im Wunderland“ vorlesen lässt, ist der intertextuelle Bezug aus der Handlung selbst heraus erkennbar. Der Titel des Buchs übrigens ist ein verdecktes oder unmarkiertes Zitat aus ebenjenem Werk.
  • Hinweise auf den Bezugstext in Anspielungen
    Oft werden durch ähnliche oder gleiche Namen Bezüge zu den Vorlagen hergestellt, z.B. Thomas Mann in „Dr. Faustus“. Manchmal haben auch Figuren, Gegenstände oder Orte aus der Vorlage einen Cameo-Auftritt.
  • Nachweis durch auffällige Nachahmung
    „Wenn beim Lesen Sprache umsetzen du musst …“ ahnt der kundige Leser, dass hier ein Bezug auf den Star Wars-Helden Yoda hergestellt werden soll.
  • Nachweis durch Gestaltung
    Hier ist das spannende Feld des Cover-, Klappentext- und Titelmarketings eröffnet. Nach dem großen Erfolg von 50 Shades of Grey waren plötzlich Detailaufnahmen von Blüten auf schwarzem Grund auf vielen mehr oder minder ähnlichen Werken zu sehen. So wie beim Original. Dasselbe Phänomen sieht man aber auch in so ziemlich jedem anderen Genre. Werbung versucht durch intertextuelle Bezüge unbewusste Assoziationen zu der verkaufsstarken Konkurrenz herzustellen.

Weiterlesen?

Eine ausführliche und sehr schön zu lesende Auseinandersetzung bietet Jolifanto an. Im Wikipedia-Artikel sind sehr ausführlich Sekundärliteratur und der wissenschaftliche Diskurs dargestellt.

Bonuswissen Intertextualität (Klugscheiß-Modus)

Der Fall Helene Hegemann, die in ihrem 2010 erschienenen Roman „Axolotl Roadkill“ zwanzig Zitate aus „Strobo“ von Airen übernommen hat, brachte die Diskussion um die Grenze zwischen Intertextualität und Plagiat erneut ins Rollen. Auch weitere Textstellen in Axolotl konnten anderen Autoren zugeordnet werden. Der Verlag distanzierte sich. Ihm seien die Übernahmen nicht bekannt gewesen. Helene Hegemann verwies darauf, dass sie nicht immer wisse, woher sie ihre Einfälle und Inspirationen hätte. „Ich habe mich überall bedient, wo ich dachte, das entspricht jetzt der Lebensweise, über die ich schreiben will“, wehrt sie alle Vorwürfe mit einem Schulterzucken ab. So sei das in der share-Kultur des digitalen Zeitalters eben. Es gebe keine Originalität, nur Echtheit.

Das Buch wurde in den Folgeauflagen nun mit einem Quellenverzeichnis ausgestattet. Außerdem schreibt Helene Hegemann hier vorsorglich: „Dieser Roman folgt in Passagen dem ästhetischen Prinzip der Intertextualität und kann daher weitere Zitate enthalten.“

Eine schöne Übersicht zu dem Fall gibt es bei der FAZ.

 

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