zu Besuch bei: Édouard Louis

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Dass Édouard Louis mich sofort und ohne Vorbehalte empfangen hat, freut mich ganz besonders. Er gilt (absolut berechtigt) als einer der Shootingstars der internationalen Literaturszene, denn er besticht durch eine in Sprache und Themenwahl radikale Sicht auf die Dinge, die er beschreibt. Naturgemäß bin ich sehr gespannt, was er auf unsere wohlbekannten Fragen antworten wird.

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Zu Besuch bei Édouard Louis, einem Verfechter von Wahrheit und Wahrhaftigkeit.

 

édouard louisWas ist dein »Sprit« beim Schreiben, woher nimmst du deine Ideen?

Ärger. Vor allem Ärger. Und Optimismus. Das geht Hand in Hand.

Ärger als Antrieb? Wie darf ich mir das vorstellen?

Wenn ich die Welt um mich herum sehe – Machtmissbrauch, Ungleichheit, Rassismus – dann bin ich verärgert und ich schreibe, um dagegen anzukämpfen. Und weil ich optimistisch bin und hoffe, dass Literatur die Welt, in der wir leben, ein bisschen ändern kann.

Viele Autoren schreiben, um die Welt ein wenig besser zu machen. Wenige allerdings mit einer so klaren Zielsetzung. Da bekommt die nächste Frage eine ganz neue Bedeutung:

 

Was würdest du tun, wenn du nicht mehr schreiben könntest?

Wenn man sich für ein Leben entscheidet, muss man andere Leben hinter sich lassen. Das ist schrecklich. Eine Wahl zu treffen, bedeutet immer auch etwas auszuschließen. Da sind so viele Dinge, die ich gerne gemacht hätte, die ich gerne gewesen wäre: Ein Tänzer, ein Schauspieler, ein Bäcker.

Dem entnehme ich, dass du das, was du tust, mit ganzem Herzen tust. Und doch andere Möglichkeiten siehst. Viele unserer Kollegen, die sich so dem Schreiben hingeben, stehen ratlos da, wenn ich nach Alternativen frage.  

 

Zu welchen Anlässen hast du schon überlegt, mit dem Schreiben aufzuhören?

Täglich. Da ist nicht ein einziger Tag, an dem ich mir nicht denke „Ich werde aufhören!“, weil es zu schwer, zu schmerzlich ist. Aber ich mache weiter. Das ist abgefahren, nicht wahr?

Nein. Ich verstehe das gut . Manchmal hat man eine Aufgabe zu erledigen, was auch immer es kostet. Manchmal aber macht man auch trotz aller Schwierigkeiten nur weiter, weil es noch schwieriger wäre, es nicht zu tun.

 

Was war dein emotionalstes Erlebnis beim Schreiben?

Als ich über meine Kindheit geschrieben habe. Weil ich bei der Gelegenheit begriffen habe, dass ich keine Kindheit hatte. Ich habe das nicht bemerkt, während ich sie durchlebte, aber ich habe den Eindruck, das erst viele Jahre später verstanden zu haben – durch das Schreiben. Und es war nicht zu spät. Denn man kann die Vergangenheit jederzeit wieder durchleben.

Meinst du? Natürlich kann man sich in die Vergangenheit zurückversetzen, sie in gewisser Weise noch einmal durchleben. Aber nimmt man nicht unweigerlich denjenigen mit, zu dem man geworden ist und deshalb wird es nie dasselbe sein, weil das Erleben oder Durchleben durch die Erfahrungen, Erlebnisse, Gedanken und Lehren gefärbt ist, die einen heute ausmachen. Schwierig …

Da wirkt jetzt die nächste Frage etwas rhetorisch:

 

Wie viel Autobiografie steckt in deinen Geschichten?

Einhundert Prozent.

Keine Beschönigungen? Keine dramatischen Effekte?

Ich denke, eine sich an der Wahrheit orientierenden Literatur kann uns helfen einige unserer festsitzenden Vorurteile zu überwinden.

Das musst du mir genauer erklären, bitte.

Als Eddy rauskam, gab es viele Leute, die nicht glauben wollten, dass es diese Art von Gewalt und Elend in Frankreich gibt. Sie verlangten Beweise, dass das, worüber ich geschrieben habe, wirklich wahr war. Andere dagegen verteidigten mich mit der Begründung, dass es auf die Wahrheit nicht ankäme, weil Eddy Literatur sei. Ich saß da zwischen den Stühlen. Denn wenn wir vertreten, dass Literatur jeglicher Frage nach der Wahrheit enthoben sei, erschaffen wir eine Literatur, die uns tatsächlich davon abhält, wichtige Fragen zu stellen, über die Welt, in der wir leben, zu sprechen.

Das sind sehr kluge Worte. Und sie sind die Variation eines Themas, an dem unsere Zeit, die anonymisierten sozialen Medien kranken. Wir sollten nicht nur ehrlich schreiben, sondern auch sprechen. Und die dabei zutage tretenden hässlichen Gedanken ertragen, sich ihnen stellen und sie bekämpfen. So werden sie hinter political correctness verborgen und gären im Verborgenen.

 

Was wäre das größte Kompliment, dass man dir als Autor machen kann?

„Nachdem ich dein Buch gelesen habe, wollte ich kämpfen, streiken, demonstrieren, schreien.“

 

Wer ist für dich dein idealer Leser?

Ein Leser, der nicht versucht der Definition eines perfekten Lesers zu entsprechen.

Das klingt spannend. Wie meinst du das?

Jemand, der nicht versucht, ein Regelwerk für „den guten Leser“ einzuführen. Ich sehe so oft, wie Menschen, die versuchen festzulegen, wie ein Leser sein sollte, was ein Leser tun sollte, letztlich eine Grenze zwischen dem richtigen und dem falschen Leser erschaffen.

Ein spannender Ansatz für eine tiefsinnige Antwort. Wir hatten hier erst kürzlich eine erbitterte Debatte darum, was ein gutes, ein richtiges Buch ausmacht. Es ging um Verlag oder Selfpublishing, um die Frage, wie ein Buch inhaltlich zu sein hat und wie viele Kommafehler enthalten sein dürfen. Doch letztlich ist ein Buch der Versuch eines Menschen, andere Menschen zu erreichen. Dafür steht auch Skoutz: Nur die Geschichte zählt.

Lass uns über etwas anderes sprechen …

 

Bei welchem deiner Protagonisten würdest du den Beziehungsstatus mit dir als »schwierig« bezeichnen?

Mein Vater, meine Mutter, meine gesamte Familie – im Buch ebenso wie im richtigen Leben.

Das ist der Fluch, wenn man diese Fragen autobiografisch schreibenden Autoren stellt.  

 

Und zum Schluss: auf welche Frage in einem Autoreninterview möchtest du einfach nur mit »Ja« antworten?

 « Are you in love ? »

Das wünsche ich dir. Vielen Dank für das wundervolle Gespräch, das so viele neue Gedanken hervorgebracht hat. Für den weiteren Wettbewerb wünsche ich dir und Eddy alles Gute.

 

Hier könnt ihr Édouard Louis treffen:

Autorenhomepage von Édouard Louis

Édouard Louis auf Twitter.

 

Skoutz-Lesetipp: „Histoire de la violence“ – autobiografisches Drama von Édouard Louis

Obwohl das Buch noch nicht in Deutsch erhältlich ist, entspricht Skoutz dem ausdrücklichen Wunsch des Autors, dieses Buch wenigstens jenen zu empfehlen, die mit der französischen Ausgabe zurecht kommen.

In dem Buch schildert Édouard Louis seine Vergewaltigung durch einen jungen Marokkaner, namens Réda. Schon diese gescheiterte Liebe ist spannend, denn fünfmal liebten sich die beiden Männer, bevor Réda ein Messer zückt und Édouard missbraucht.

Literarisch ist das Buch besonders, weil das Opfer sich in seiner Schilderung nicht auf seine Sicht der Ereignisse beschränkt, sondern auch für den Täter, seinen einstigen Geliebten, Empathie zu empfindet und schonungslos das Scheitern der Beziehung und die Dynamik Gewalt beschreibt, die am Ende nur Opfer zurücklässt. Gesellschaftspolitisch ist das Buch ebenso spannend, denn plötzlich wird es zum Beweismittel in Rédas Prozess wegen Vergewaltigung und versuchten Mordes. Die Wohnung gefundenen Proben führten zur Identifizierung von  Réda, der als Drogendealer polizeibekannt war. Für seine (pseudonymisierte) Rolle in dem Buch hat Réda Klage eingereicht. Er will Schmerzensgeld und eine Gegendarstellung im Roman wegen Verletzung seiner Privatsphäre und der für ihn geltenden Unschuldsvermutung.

Skoutz meint: Und wieder einmal wird eindrucksvoll bewiesen, dass das Leben die besten Geschichten schreibt. Nicht nur in, sondern eben auch über Bücher. Und auch, wie schwierig der Umgang mit der Wahrheit ist. Eine Erkenntnis, die man sich nicht oft und nicht eindringlich genug vor Augen führen kann.

 

Cover BuchHinweis:

Unser Juror Jannis Plastargias hat „Das Ende von Eddy“, Édouard Louis autobiografische Abrechnung mit Homophobie und Verlogenheit aus über 100 vorgeschlagenen Titeln in die Midlist Contemporary des Skoutz-Awards 2016 gewählt.

Diesen sprachgewaltigen Befreiungsschlag aus einer unerträglichen Kindheit haben wir uns im Rahmen einer gesonderten Buchvorstellung genauer angesehen und ausführlich besprochen (weiterlesen).

 

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