Nur die Meinung zählt? – Amazon zensiert „When Harry becomes Sally“

In unserem News-Feed erschien gestern eine jener Nachrichten, von denen man nicht weiß, ob man klatschen oder protestieren soll. Weil man, egal wohin man sich wendet, immer das Gefühl hat, falsch zu stehen. Davon möchten wir berichten, auch weil es zeigt, wie schwierig es ab und zu ist, gute Grundsätze im Konkreten zu verteidigen. Und wie wichtig, dann offen darüber zu reden.

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When Harry becomes Sally und Meinungsfreiheit sich an Fakten stößt

Laut der Seite queer.de* hat Amazon das 2018 in den USA erschienene Sachbuch „When Harry becomes Sally“ aus seinem Sortiment entfernt, ein Buch, das Personen, die transgender sind, als geistig krank darstellt. Nun werden wir immer hellhörig, wenn ein Buch wegen seines Inhalts der Öffentlichkeit vorenthalten wird. Zensur und Meinungsfreiheit sind Worte, die hier schon fast reflexartig zu Protesten führen. Doch ist das immer und speziell in diesem Fall gerechtfertigt?

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Wer will Fakten, wenn er Meinungen haben kann?

When Harry becomes SallyMehrere konservative Abgeordnete in den USA haben dagegen protestiert. Sie berufen sich dabei auf die Meinungsfreiheit. „When Harry becomes Sally“ aus dem Handel zu nehmen, käme einer Zensur gleich. Dies gälte insbesondere, da Amazon.com 80 Prozent des Buchmarktes kontrollieren würde.

Da wir hierzulande in letzter Zeit auch oft Diskussionen über die Auslegung der Meinungsfreiheit haben, ist es interessant, sich der Frage zu widmen:

Was sollen Autoren denn nun „mal sagen“ bzw. schreiben dürfen?

Wie ihr wisst, ist unser Motto: „Nur die Geschichte zählt“. Wir stehen dafür, dass Autoren ihre Geschichte so erzählen dürfen, wie sie sich Handlung, Figuren und Details vorstellen. Auch wenn das dazu führt, dass die Leser das Buch dann in das Genre „Horror“ oder „Humor, unfreiwillig“ einordnen. Warum also entsteht hier ein Dilemma?

Da kommen wir schon zu dem ersten markanten Unterschied. Geht es um Tatsachenbehauptungen oder um Meinungen?

Das Buch, um das es geht, versteht sich als Sachbuch. Insofern macht es normative Aussagen. Aussagen, die von Lesern oft als verlässlich eingestuft werden. Während ein Roman in jedem Fall fiktional ist und selbst, wenn er Tatsachen aufgreift, immer noch unbestritten ein fiktionales Werk bleibt, ist ein Sachbuch ein Medium, das für sich in Anspruch nimmt, eine Sache angemessen und wahrhaft darzustellen. Natürlich können auch Sachbuchautoren bestimmte Blickwinkel einnehmen und sind vor Irrtum nicht gefeit. Aber sie werden zunächst von vielen als „Autoritäten“ zu einem Thema wahrgenommen.

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Lässt When Harry becomes Sally keinen Raum mehr für Kontroverse?

Doch bedeutet das, kontroverse Themen dürften in Sachbüchern dann vielleicht gar nicht mehr thematisiert werden? An der Stelle drängen sich Populisten gerne in Diskussionen. Sie nutzen die Gunst der Stunde, um einen wesentlichen Faktor zu vernebeln:

Es gibt einen alles entscheidenden Unterschied zwischen Meinung und Hetze, zwischen Ansichten und dem Säen von Hass gegen Gruppen von Menschen.

Und Amazons Entscheider haben dieses Buch als genau das wahrgenommen. Für sie ist „When Harry becomes Sally“ ein Buch, das bestimmte Menschen als geisteskrank darstellt und das sie so individuell und als Gruppe stigmatisiert. Wenn nun vier US-amerikanische Senatoren den Konzern deswegen zu einer Stellungnahme auffordern und schreiben, der Autor „würde doch nur bessere Wege darstellen, mit einer Geschlechtsstörung umzugehen“, dann wird klar, worum es geht. Wir sollen Transgender als eine Störung, eine Abweichung von einer Norm betrachten und diese Betrachtungsweise als bindend anerkennen.

Und genau das ist nicht nur wissenschaftlich überholt, sondern der Ausgangspunkt für die Verbreitung von Hass, genau wie Bücher, die „Therapien“ für Schwule oder Lesben propagieren. Lange schon werfen verschiedene Gruppen Amazon vor, zu selten und zu spät gegen das Säen von Hass vorzugehen. Der Konzern hat im Zuge solcher Debatten in den USA unter anderem Hitlers „Mein Kampf“ aus den Regalen geräumt. Meist vermuten Menschen eher, es fände Zensur statt, wenn sie ideologisch der Idee nahestehen, die in einem Werk zum Ausdruck kommt. Wenn das Buch aus inhaltlichen Gründen aus dem Handel entfernt wird. Man spricht jedoch nicht von Zensur, wenn Amazon Bücher mit zu vielen Rechtschreibfehlern mit Warnhinweisen versieht und notfalls auch löscht. Dieses Beispiel zeigt, dass es uns also allen bewusst ist, dass Zensur sich gegen Inhalte richtet.

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Wurde When Harry becomes Sally wirklich zensiert?

Zensur liegt nach allgemeiner Definition vor, wenn staatliche Organe oder andere zuständige Stellen Information kontrollieren.

Das tun Behörden regelhaft zum Schutz der Jugend und beispielsweise auch, um Holocaust-Leugnern keine Plattformen zu bieten. Insofern kann man Amazons Entscheidung durchaus als Zensur auffassen – hier wird Meinung entfernt und damit in ihrer Ausbreitung kontrolliert. Zensur ist das freilich nur im übertragenen Sinne. Noch ist Amazon ein privatrechtlich geführtes Unternehmen, das in seiner Entscheidung frei ist, mit welchen Autoren es eine Geschäftsbeziehung eingeht. Aber das ändert nur die juristische Betrachtungsweise, nicht aber das eigentliche Problem.

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Verstößt diese Art von Zensur auch gegen die Meinungsfreiheit?

Wenn ein Mensch in einem Kinderbuch anstößige, sagen wir pädophile Inhalte veröffentlicht, wird das Buch zensiert. Sofern nicht ohnehin der in der aktuellen Literatur gerne übersehene Straftatbestand der Gewaltverherrlichung vorliegt, bleibt die Frage.: Kann sich oder sollte sich der Autor hier auf die Meinungsfreiheit berufen dürfen? In diesem Fall werden wohl die meisten nein sagen.

Soll der Autor des oben genannten Buches sich auf die Meinungsfreiheit berufen dürfen? Hier gibt es eindeutig mehr Spielraum für unterschiedliche Auffassungen. Schließlich gibt es ja Menschen, die meinen, das Geschlecht sei von Gott oder der Natur festgeschrieben und es ändern zu wollen, sei sündhaft bzw. widernatürlich. Können sich diese Menschen in Deutschland auf die Meinungsfreiheit berufen? Nein!

Denn das AGG, das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, meist als Antidiskrimierungsgesetz bezeichnet, legt fest, dass Menschen unter anderem nicht wegen ihrer sexuellen Identität diskriminiert werden dürfen. In Deutschland also ist die „Meinung“ des Autors eben gar keine Meinung, sondern eine diskriminierende Äußerung, die sich gegen eine Gruppe von Menschen richtet. Und die wird hier nicht mal eben am Stammtisch geäußert, sondern in einem Buch, das von sich behauptet, es würde dazu verfasst sein, um Menschen zu helfen. Das also als Sachbuch mit wissenschaftlichem Anspruch daherkommt.

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Für uns wieder mal ein Beispiel dafür, dass wir immer genau hingucken und miteinander sprechen sollten, wenn leichthin oder sogar böswillig der Begriff „Meinungsfreiheit“ in den Ring geworfen wird. Wenn jemand eigentlich nur für sich beanspruchen will, ungehemmt gegen andere Menschen hetzen zu dürfen. In diesem Sinne ist Amazons Entscheidung ebenso nachvollziehbar wie begrüßenswert.

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Hier könnt ihr weiterlesen:

  • Einen Blick ins Buch „When Harry becomes Sally“ könnt ihr (noch) bei Weltbild* werfen, wo das Buch noch angeboten wird.
  • Die Tagespost* berichtet in einer eher kritischen Haltung über die Entscheidung
  • Die National Coalition against Censorship* ist gleichfalls kritisch, insbesondere mit Blick auf Amazons unbestrittenen Markteinfluss (englisch)
  • Die britische Daily Mail* veröffentlicht in ihrem differenzierenden Artikel zugleich die Stellungnahme von Amazon zu seiner Entscheidung, die wir leider nirgends in einer Primärquelle gefunden haben. (englisch)

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