Skoutz-Wiki Narrative Instanz Erzähltheorie

Hallo? Wer spricht? Narrative Instanz für bessere Texte

Lasst uns heute einmal über die „narrative Instanz“ sprechen. Das klingt so richtig schlau und auch der momentan noch ratlose Schreiberling fühlt sich irgendwie wissenschaftlich geadelt. Wenn man das Stichwort Tante Google anvertraut, versorgt sie einen allzeit hilfsbereit mit den Erzähltheorien von Gérard Genette oder Franz Stanzel, mit dessen Ansichten auch die Deutsch-Oberstufe gequä … erhellt wird. Warum wir in der stets eher pragmatisch und praxisorientierten Skoutz-Schreibstube einen ganzen Artikel der narrativen Instanz widmen hat einen einfachen Grund:

Wenn man sich mit dem Thema einmal gedanklich und nicht nur aus dem Bauch heraus befasst, führt das in aller Regel zu besseren Texten.

Und darum geht es uns ja, wir wollen unsere Geschichten bestmöglich präsentieren. Dazu gehört ganz grundlegend auch die Frage, wen wir sie erzählen lassen.

 

Die Narrative Instanz in Kürze:

Jeder, der schon einmal versucht hat, einen Streit zu schlichten, hat hautnah erlebt, dass eine Geschichte sehr stark dadurch geprägt wird, wer sie erzählt. Oft fragt man sich, ob die Parteien überhaupt von der gleichen Geschichte sprechen, aber auch wenn die Eckdaten noch übereinstimmen, unterscheiden sie sich in den Details, der Tonart und der Stimmung. Die Perspektive ist ein Teil der narrativen Instanz, jedoch nicht mit ihr gleichzusetzen.

Beim Schreiben ist also die Entscheidung, welche narrative Instanz den Plot an den Leser (oder auch Zuhörer oder Zuschauer) bringt, zentral. Sie definiert den Fokus, die Sprache, die Tonlage. Eine 60jährige Philosophieprofessorin wird sich nicht nur anders ausdrücken als ein ein 20jähriger LKW-Fahrer, sondern im Zweifel auch auf andere Details achten.  Mit den gewählten Beispielen verbindet man Erwartungen, die nun erfüllt oder bewusst enttäuscht werden können (in letzterem Fall sollte eine Begründung sicherstellen, dass die „Enttäuschung“ eine positive Überraschung ist).

 

narrative Instanz Textbild 1 - Offenes BuchUnd nochmal etwas ausführlicher

Narratologie (die Wissenschaft vom Erzählen) geht davon aus, dass dieselbe Story auf vielfältige Weisen in Erzählungen umgesetzt werden kann. Es kommt demnach nicht nur auf den Inhalt (Histoire) sondern auch auf die Präsentation (Discours) an. Die Untersuchung dieser Wechselwirkung und die Möglichkeiten, die sich gestalterisch daraus ergeben, ist dann die wissenschaftliche Aufgabe.

 

Eingangsfrage: Wer erzählt die Geschichte?

Dabei muss erzählen und erleben nicht zusammenfallen, weshalb wir die vermeintlich einfache Frage unter handwerklichen Aspekten zunächst einmal in mehrere Teile zerlegen.
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Toronto, Turm, Architektur, Wolkenkratzer
Aus welcher Sicht wird die Geschichte erzählt („Fokus“)?

Ein anderer Blickwinkel offenbart oft einen völlig anderen Eindruck. Das gilt nicht nur für Fotos, sondern auch für Texte.

  • Der Erzähler kennt mehr als nur eine Perspektive, die er in die Schilderung des Geschehens einfließen lässt (auktorialer Erzählstil oder Null-Fokalisierung)
  •  Der Erzähler berichtet die Geschichte aus der Perspektive einer einzigen Figur – egal, ob er in der 1. oder in der 3. Person berichtet (personaler Erzählstil oder interne Fokalisierung)
  •  In diesem seltenen berichtet der Erzähler aus der Distanz betont neutral ohne eine Perspektive einzunehmen, das Innenleben einer der Figuren zu kennen (neutraler Erzählstil oder externe Fokalisierung)

Jede dieser Varianten hat Einfluss auf die Geschichte, weil sie aufgrund der gewählten Struktur beim Lesen einmal mehr oder weniger sehr verschiedene Informationen bereitstellen kann. Dies hat erhebliche Wirkung auf die Spannung, die Leseerwartung und die Entwicklung der Geschichte. Das ist aber Gegenstand eines oder vielleicht auch mehrerer Artikel, die wir euch demnächst präsentieren.
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Wie steht der Erzähler zur Handlung („Diegese“)?

Darunter versteht man die Frage, woher der Erzähler von der Geschichte weiß, ob und wie er in der Geschichte eingebunden ist.

  • Ist der Erzähler eine Figur der Erzählung, homogener Teil der erzählten Welt, spricht man von einem homodiegetischen Erzähler (und zwar wieder unabhängig davon, ob er in der 1., 3. oder vielleicht auch 2. Person berichtet).
  • Wenn die Hauptfigur ihre Geschichte erzählt, sich also (aus ihrer Sicht) autobiografisch berichtet, spricht man folgerichtig von einem autodiegetischen Erzähler.
  • Wird die Geschichte hingegen von außen erzählt, so wie es bei Märchen üblich ist, nennt man das heterodiegetisches Erzählen.
  • Und wenn – Spezialfall – die eigentliche Erzählung in eine Rahmenerzählung eingebettet wird, wie etwa bei „Der Schimmelreiter“ oder „Die Braut des Prinzen“ ist das metadiegetisches Erzählen.

Fast mehr noch als der Zugriff auf das Innenleben der Figuren prägt die Position des Erzählers im Verhältnis zum Geschehen die Art, wie eine Geschichte überhaupt nur erzählt werden kann. Während eine Figur, die in einer Welt lebt, diese als selbstverständlich nimmt und naturgemäß nicht ohne weiteres erklären wird, ist hierzu ein heterodiegetischer oder metadiegetischer Erzählstil viel eher in der Lage. Welche Vor- und Nachteile jede dieser Positionen mit sich bringt und wann und wie man sie daher am besten einsetzt, um seine Geschichte wirken zu lassen, zeigen wir euch ebenfalls in einem gesonderten Beitrag.
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Wann wird die Geschichte im Verhältnis zu den Ereignissen erzählt („Zeitstruktur“)?

Die Zeitstruktur zerfällt in zwei Aspekte.

Erzählt die Geschichte die Ereignisse in der Reihenfolge , in der sie sich abspielen oder gibt es Vor- oder Rückgriffe („Chronologie“)? Setzt die Erzählung während oder nach dem Geschehen ein oder greift sie den Ereignissen sogar vor (bei einer Prophezeiung etwa)?

Es gibt viele Bücher, die ihre Geschichte von verschiedenen Zeitpunkten aus erzählen. Ebenso gibt es Geschichten, bei denen die Handlung die Erzählung einholt; also in der Vergangenheit (retrospektiv) beginnt und sich in der Erzählgegenwart fortsetzt. Die Zeitstruktur hat innerhalb der narrativen Instanz erheblichen Einfluss auf die Wahrnehmung der Geschichte. Das liegt vor allem daran, dass man beim Lesen unabhängig von der gewählten Erzählzeit (Präsens oder Präteritum) immer zugleich Gegenwärtiges und Vergangenes wahrnimmt. Denn man empfindet die Handlung als aktuell ablaufendes Ereignis, das aber nur Sinn ergibt, wenn der Vorgang zum Zeitpunkt des Erzählens bereits abgeschlossen ist. Welchen Part des Widerspruchs man beim Lesen oder Schreiben leichter ausblendet, bestimmt vermutlich, welche Erzählzeit man bevorzugt.

Sowohl die Chronologie als auch die Erzählzeit werden wir uns noch in verschiedenen Artikel zur Erzähltheorie genauer ansehen.

Wer ist der Erzähler?

Die folgenschwerste Entscheidung ist aber die, wer die Geschichte erzählen soll. Ein Kind sieht die Welt buchstäblich mit anderen Augen als ein Erwachsener. Jemand, der in einer Kultur aufgewachsen ist, wird vieles anders wahrnehmen, als jemand, der dazugestoßen ist. Bildung, sozialer Status, Geschlecht, Erfahrung, Interessenlagen – all diese Faktoren prägen eine Geschichte. Unter Umständen sogar so sehr, dass eine völlig andere Geschichte dabei herauskommt, obwohl sich der Plot nicht verändert. Stellt euch vor, wie Rotkäppchen aus der Sicht des Wolfes klingen würde? Rosendorfers „Briefe in die chinesische Vergangenheit“ beziehen in erheblichem Maße ihren Charme daraus, dass ein Zeitreisender aus dem alten China das moderne München kommentiert.
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Übung zur narrativen Instanz

Geschichte: Die Freunde Peter und Paul besprechen auf dem Heimweg von der Schule, wie Paul am Abend auf Susis Party endlich bei Susi landen will. Als sie bei Pauls Mutter die Party erwähnen, verbietet Pauls Mutter Paul die Teilnahme, weil die Großmutter zu Besuch kommt. Der Streit eskaliert.

Wie verändert sich die Geschichte, wenn sie

  • neutral distanziert von zwei Jungs und ihren Schulfreunden und Verwandten erzählt aus
  • Pauls Sicht
  • Peters Sicht
  • Sicht der Mutter erzählt wird?

Wie wirkt die Geschichte, wenn sie

  • auf dem Heimweg
  • Zuhause bei Paul
  • auf der Party einsetzt?

Wie würde sich die Geschichte ändern, wenn es nicht um ein Date mit Susi ginge, sondern Paul seiner Freundin einen Heiratsantrag machen möchte?

Wie wichtig sind bei der Geschichte die Gefühle der Figuren, verändert sich die Geschichte durch die Innensicht der erzählenden Person?

Versucht solche Übungen auch mit eigenen Texten/Szenen. Man sieht sehr schnell, ob eine andere narrative Instanz nicht das Anliegen besser verdeutlicht. Das hilft speziell dann, wenn man das Gefühl hat, ein Text würde nicht richtig wirken.

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Bonuswissen: Narrative Instanz zwischen Literatur und Film  (Klugscheiß-Modus)

Kino, Theater, Filmtheater, Film, Leinwand, SitzeDurch die Bedeutung des Films als Medium, unsere Geschichten zu transportieren, hat sich auch die bis dahin einfache Regelung zur narrativen Instanz verändert. Aus Wer erzählt wann mit welchem Motiv und Hintergrund wird durch die Bildsprache der Kamera die Abgrenzung deutlich schwieriger. Zeigt man den Protagonisten in der Draufsicht, ist dies dem auktorialen Erzähler vergleichbar. Heterodiegetisch können auch Szenen gezeigt werden, die den Protagonisten in ihrer Wahrnehmung nicht zur Verfügung stehen. Das geht sogar viel leichter als das in einem Buch der Fall ist.  Eine autodiegetische Sicht, also die Ich-Perspektive, kann umgesetzt werden, indem die Kamera die Augen der Figur abbildet. Gleichwohl ist eine interne Fokalisierung, ein Aufzeigen des Innenlebens der Figuren schwer umsetzbar.

Die narrative Instanz wird zudem erst sehr spät, nämlich bei Bildauswahl und Montage festgelegt. Da das Kamerabild Set, Figur und Aktion gleichzeitig vorstellt, kann der erzählende Regisseur nie ganz sicher sein, welche Informationen sein Publikum aus dem Bild herausliest oder wie sie diese Informationen priorisieren.  In den meisten Produktionen sind für die prägenden Arbeitsschritte zudem verschiedene Personen im Team verantwortlich. Daher sind Film und Buch, wo der Autor im Wesentlichen alles aus einer Hand liefert, nur bedingt vergleichbar. Allein deshalb ist auch ein bewusster Umgang mit den unter der narrativen Instanz zusammengefassten Mitteln sehr wichtig.

Dies hat dazu geführt, dass die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der narrativen Instanz, ihrer Gestaltungsmöglichkeiten und Wirkungen durch den Film erheblich an Bedeutung gewonnen hat. Und das liefert eben auch für Bücher interessante Einblicke und Tipps, wie Geschichten auch lesend besser erfassbar sind.

 

Weiterlesen?

Wer sich für das Thema erwärmt, finden bei der Uni Wuppertal* sehr gute Artikel und vor allem auch weiterführende Fachliteratur

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