Skoutz-Wiki: Märchen
Bis heute dürfte das Märchen für die meisten von uns die erste Begegnung mit Literatur gewesen sein.
Mit Aschenputtel und dem tapferen Schneiderlein wurde uns die wunderbare Welt der Bücher und die unendlichen Weiten im Reich der Fantasie eröffnet. Grund genug, sich das Märchen einmal im Wiki genauer anzusehen.
Das Märchen in Kürze:
Märchen sind im Gegensatz zu Sage und Legende frei erfundene Prosatexte ohne zeitlichen oder örtlichen Bezug, aber mit fantastischen Elementen. Sie sind eine sehr alte Textgattung und kommen in allen Kulturkreisen vor, wo sie traditionell mündlich übertragen wurden. Die gebräuchliche Einstufung in die Kinder- und Jugendliteratur ist weder literaturwissenschaftlich noch historisch richtig.
Märchen, die sich quer durch alle Zeiten und Welten erstaunlich ähnlich sind, schlagen seit jeher Brücken zwischen den verschiedenen Völkern und zeigen deren zahlreiche Gemeinsamkeiten auf. Es ist faszinierend, wieviele urdeutsche Märchen eigentlich „Ausländer“ sind.
Das Märchen genauer betrachtet:
Das Märchen verdankt seinen Namen der mittelhochdeutschen Mär (Maer), die man mit Bericht oder Nachricht übersetzen könnte.
Was ist eigentlich märchenhaft?
Charakteristisch für Märchen ist, dass sie
- zeitlich und räumlich flexibel sind,
- strikt zwischen Gut und Böse unterscheiden und
- typischerweise fantastische Elemente wie sprechende Tiere, Hexen, Feen, Zauberer, Fabeltiere, Geister enthalten.
(Im Englischen heißen Märchen beschreibender auch „fairy tales“)
Doch darf man nicht darüber hinwegtäuschen, dass Märchen volkspsychologisch sehr interessant sind, weil sie sich mit realen Sorgen und Nöten befassen und insofern sozialrealistische oder sozialutopische Züge tragen. Armut, Hunger, schwierige Familien- oder politische Verhältnisse sind typische Probleme von Märchenfiguren. Typischerweise enden aber Märchen glücklich. Nicht zufällig heißen sie auf griechisch Mythimna, was Zuspruch und Trost bedeutet.
Auch wie sie in ihrer Nach- und Weitererzählung verändert wurden, ist hochinteressant, unterstellt man, dass der Autor/Erzähler damals wie heute durch seine Anpassungen versucht, sein jeweiliges Publikum besser zu erreichen.
Abgrenzung zu anderen Literaturgattungen
Das Märchen ist von Sagen und Legenden, die zeitlich oder örtlich eine Zuordnung besitzen, abzugrenzen. Allerdings ist bei mythologischen Sagen der Übergang oft mehr oder weniger fließend.
Mythen liefern oft auch die Motive für Märchen, die diese in abgespeckter Form aufgreifen. So wird bei „Frau Holle“ eine alte heidnische Gottheit vermutet, während man die Parallele zwischen der Brunhild-Sage, die wir aus dem Nibelungenlied kennen, und „Dornröschen“ relativ schnell aufdecken kann. Ersetzt den Feuerring durch eine romantische Rosenhecke, den vom Schlachtfeld herbeigeeilten, schmutzstarrenden, wahrscheinlich mäßig gut riechenden BadBoy-Recken mit einem braven Prinzen aus gutem Hause und die gefürchteten Nornen durch ein paar zerstrittene Feen.
Auch die Abgrenzung zur Fantasy fällt oft schwer. Aufgrund ihrer fantastischen Elemente kann man Märchen auch als Mutter der fantastischen Literatur betrachten, zumal auch moderne Geschichten wie z.B. „Star Wars“ märchenhafte Züge tragen („Es war einmal in einer weit entfernten Galaxie…“).
Märchenformen:
Märchenhafte Erzählungen und Überlieferungen finden sich in allen Kulturen bis in die entlegendsten Gebiete. Faszinierend ist, dass bestimmte Motive immer wieder vorkommen. Wer nicht an das Wundersame glauben will (was man unserer Meinung nach bei Märchen durchaus darf), kann dies auch mit einem von jeher über Handel und Völkerwanderungen erfolgendem interkulturellen Austausch begründen.
Das Märchen kennt folgende Subgenres:
- Volksmärchen
Sie sind die einfache Form, die man sich früher an langen Winterabenden in der Stube zum Zeitvertreib erzählt hat. Das heißt, sie sind als vor-literarische Form von mündlicher Weitergabe und und Volkstümlichkeit geprägt. So ist bei den mündlich übertragenen Volksmärchen der Erzählkern (die „Basics“) gleichbleibend, wie etwa die grobe Handlung, die Figuren, Motive und Grundsymbole. Dazu gehören feste Formeln wie die Bedeutung der Zahlen 3 und 7 oder die Eingangs- und Schlussformel (von „Es war einmal“ bis zu „Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute“.) - Kunstmärchen
Das Kunstmärchen kann einem Autor eindeutig zugeordnet werden und zählt damit zur Individualliteratur. Auch ist es üblicherweise in schriftlicher Form gefasst und gilt damit als eigenständige künstlerische Schöpfung, die damit auch dem jeweiligen Urheber gehört. Je nach Autor variiert dabei die Nähe zum Volksmärchen und seinen Vorgaben. Manches Kunstmärchen hat das Zeug zum Lagerfeuerklassiker, andere sind zu komplex in ihrem Aufbau und besitzen nur aufgrund ihres fantastischen Themas Märchenqualität. Seinen Höhepunkt hatte das deutsche Kunstmärchen in der Romantik, erste Kunstmärchen sind aber schon aus der Antike überliefert, etwa „Amor und Psyche“ von Apuleios. - Märchenadaption
Bei der Adaption wird ein bekannter Stoff in einem anderen Kontext neu erzählt. Zu verschiedenen Märchen gibt es hier zahlreiche Beispiele, nicht nur aus der Literatur, sondern auch im Film (z.B. „Pretty Woman“ als moderne Aschenputtelversion). Bekannte Beispiele sind „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“, eine emanzipierte Fassung des berühmten Märchens der tschechischen Schriftstellerin Božena Němcová (1820–1862), „Die Dreizehnte Fee“ von Julia Adrian, die den Fantasy-Skoutz 2016 gewonnen hat, oder auch „Die Zimtsternprinzessin“ von Skoutz-Chefredakteurin Kay Noa. - Märchenparodie
Bei Märchenparodien weicht die Handlung, ähnlich wie bei der Adaption, mehr oder weniger stark von der des ursprünglichen Märchens ab. Der Unterschied besteht darin, dass der Umgang mit dem Original von Ironie und Spott geprägt ist. Manchmal bezieht sich die Parodie auf ein einziges Märchen und manchmal auf mehrere gleichzeitig.
Bekannte Beispiele sind „Die Brautprinzessin“ von Wiliam Goldman, „Ensel und Krete“ von Walter Moers, aber auch „Rotkäppchen und der Hipsterwolf“ von Nina McKay, das auf der Midlist des Humor-Skoutz 2017 steht. Bekannte Filmparodien sind „Shrek“ oder auch „7 Zwerge – Männer allein im Wald“.
Wie weit das im Einzelfall gehen kann, belegt ein Artikel über „Hänsel und Gretel“ und ihre Wirkung im wissenschaftlichen Kontext, wie er im Magazin von „Was liest du“ veröffentlicht wurde.
Märchen Motive
Daneben gibt es auch eine Unterteilung nach Inhalt und Motiv, wie sie beispielsweise die Brüder Grimm in ihrer berühmten Märchensammlung vorgenommen haben, wobei sie sich auf alle Märchengattungen anwenden lässt:
- Tiermärchen
Tiermärchen stehen der Fabel ziemlich nahe, sind aber – anders als die Fabel – in ihrer Rollenzuweisung (der schlaue Fuchs) nicht so festgelegt. Es liegt keine einheitliche und damit verbindliche wissenschaftliche Definition für das Tiermärchen vor. Dennoch werden einige Merkmale als typisch und international gültig für das Genre angesehen. Das wichtigste dieser Merkmale sind die tierischen Protagonisten. Typischerweise kommen in diesen Märchen (wie bei der Fabel auch) nur Tiere vor. Zwingend ist das aber nicht.
Bekannte Beispiele sind „Der Wolf und die sieben Geißlein“, „Der Wettlauf von Hase und Igel“. Aber dazu gehört auch mit Einschränkungen „Der gestiefelte Kater, der seinem Herrn zuletzt die Hand einer Prinzessin verschafft und damit den heiß herbeigesehnten gesellschaftlichen Aufstieg (genau betrachtet ein sehr emanzipiertes Märchen 🙂 ). - Schwankmärchen
Ein Schwank ist eine oft betont derbe Geschichte, die auf eine Pointe hinsteuert und dabei oft satirische Züge trägt. Im Märchen bleibt die groteske, launige Handlung erhalten, verliert aber genretypisch ihre zeitkritische Komponente, wobei oft typische, zeitlose Charakterzüge ins Lächerliche gezogen werden.
z.B. „Hans im Glück“, „Der Bauer und der Teufel“ - Zaubermärchen
sind die wohl älteste und bis heute häufigste Form des Märchens. Sie erzählen, dass Geschichten, die von magischen Kräften von Personen oder Gegenständen handeln. Hier sind neben Hexen, Feen, Zauberern, Geistern und Dämonen auch jede Menge magischer Hausrat zu verorten.
Bekannte Beispiele sind „Tischlein deck dich“, der Zauberspiegel aus „Schneewittchen“, aber auch „Aladins“ berühmte Wunderlampe. Aber auch „Zwerg Nase“, das Kunstmärchen von Wilhelm Hauff, zählt dazu. - Feenmärchen
Diese Gattung kommt zwar ursprünglich aus dem arabischen Raum, hat aber auch die modernen Versionen bekannter deutscher Märchen wie etwa „Dornröschen“ beeinflusst. Hier geht es um die Kräfte mächtiger Zauberinnen oder Feen, Dämonen und Geister. Abzugrenzen sind die Märchen aus dem keltischen Kulturkreis, die sich meist mit den Beziehungen zur Anderwelt der Feen und Elfen befassen. Spätestens mit den Kreuzzügen verschmolzen diese Vorstellungen und beeinflussten sich gegenseitig. Die Übergänge der bösen Feen zur Hexe ist fließend, wie sich z.B. bei der „Zauberin“ in „Rapunzel“ zeigt. Auch die Hexe aus „Hänsel und Gretel“ könnte jederzeit als zurückgezogen lebende Fee verstanden werden. - Teufelsmärchen
Regelmäßig geht es darum, den Teufel, in weniger chrisitanisiertem Kontext auch Riesen oder Trolle, zu überlisten. Etwa in „Der Teufel mit den drei goldenen Haaren“. Daher ist der Teufel im Märchen auch anders als im christlichen Glauben nicht der Herr des Bösen, sondern ein in verschiedensten Gestalten auftretender Bösewicht, den man mit Witz und Mut auch überwinden kann, wie in „Der Bauer und der Teufel“. Eher abstrakt tritt er in Andersens berühmten Kunstmärchen „Die Schneekönigin“ auf, in dem er für den Zauberspiegel verantwortlich ist, dessen Splitter soviel Schaden anrichten.
Typische Märchenmotive sind: die schlafende Schöne („Dornröschen), das ausgesetzte Kind („Sterntaler“, „Hänsel und Gretel“), die Bedrohung durch wilde Tiere („Rotkäppchen“), drei Wünsche, die Heirat zwischen Prinz und armem Mädchen („Aschenputtel“)
Die Geschichte des Märchens
Das Märchen ist so alt wie die Menschheit. Tatsächlich gehen viele Forscher heute davon aus, dass die Felsmalereien in Steinzeithöhlen Illustrationen von verbalen Geschichten waren, die möglicherweise Märchen gewesen sein könnten.
Weniger spekulativ ist, dass die ältesten bekannten Formen des Volksmärchens aus dem Orient kommen und entlang der alten Handelsrouten 1001 Nacht später das Abendland erreichten. Sowohl in der Antike als auch im Mittelalter erzählte man sich Märchen und vermischte sie mit der eigenen Mythologie, speziell in Großbrittaniens keltischem Märchengut.
Schriftliche Märchensammlungen aus aller Welt:
Die Anfänge
Wie gesagt, seit Menschen träumen und hoffen, gibt es Märchen. Aber wenn wir uns einmal auf die niedergeschriebenen Fassungen (Märchensammlungen oder genauer: Märchenanthologien) beschränken, geht es zunächst in den Orient. Kein Wunder, kommen von dort doch auch die ersten Hochkulturen.
Die „Geschichten aus 1001 Nacht“ sind eine Märchensammlung, deren ersten schriftilchen Überlieferungen aus dem 8. Jahrhundert stammen. Diese Geschichten erzählte angeblich die kluge Sherezade ihrem Sultan, um zu verhindern, dass sie hingerichtet wurde. Dabei erlangte sie dadurch immer wieder einen Aufschub, weil ihre exotischen Geschichten (vermutlich indisch-persischen Ursprungs) immer dann, wenn der Besuch endete, gerade so spannend war, dass der Sultan unbedingt wissen wollte, wie es weitergeht und sich mit ihr für den nächsten Tag verabredete. Der effektivste Einsatz eines Cliffhangers aller Zeiten! Dabei ist Sherezans Geschichte der Rahmen für eine wechselnde Zahl unterschiedlichster Geschichten, die dann von ihr erzählt werden.
Der Boom in Europa
Mit der Übersetzung durch den Franzosen Antoine Galland im 17. Jahrhundert gelangten diese Mächen nach Europa. Er und sein Landsmann Charles Perrault, der etwa zeitgleich seine Märchensammlung „Contes des Fées“ (Feenerzählungen) herausgab, verschafften dem Märchen seinen Durchbruch als „seriöse“ literarische Gattung. Etwas früher datiert die Sammlung des Italieners Giovanni Strapola, wobei man sich uneins ist, ob die „ergötzlichen Nächte“ (1550/53) nun als Märchen- oder Novellensammlung gelten.
Diese Entwicklung in Frankreich und Italien brachte bald schon auch deutsche Autoren wie die Gebrüder Grimm oder auch Ludwig Bechstein auf die Idee, sich selbst mit den Märchen ihrer Heimat zu befassen. Ludwig Tiecks berühmte Übersetzungen der Perrault’schen Märchen wie „Der gestiefelte Kater“ verstärkten die Nachfrage. Man sieht – Modeerscheinungen in der Literatur sind auch keine Erfindung von Twilight und Shades of Grey. Autoren hatten zu allen Zeiten Hunger und daher ein offenes Ohr für Nachfrage.
Die Klassiker
1812 schließlich veröffentlichten die Brüder Jacob und Willhelm Grimm ihre berühmte Sammlung „Kinder- und Hausmärchen„. Dabei wurde vernachlässigt, dass viele der Märchen nicht wirklich deutsches Märchengut waren. Viele der Informanten der Brüder hatten nämlich ausländische Wurzeln oder entstammten französisch orientierten Adelskreisen.
Trotz großer Nachfrage hagelte es auch vielfach Kritik. Die Stoffe seien nicht kindgerecht, zu brutal, und kurz nicht mit dem Moralempfinden des reichen Bürgertums vereinbar, dass die Bücher kaufte. Die Brüder gaben nach und so wurden die Texte mit jeder neuen Auflage weiter überarbeitet. Sie wurden in Bezug auf Gewalt und Erotik entschärft, mit christlichen Wertevorstellungen angereichert und generell „marktoptimiert“, indem z.B. die Mütter gegen Stiefmütter ausgetauscht wurden, um nicht mit dem Familienbild anzuecken. Ein Rufmord, von dem sich die Stiefmütter bis heute nicht wieder erholt haben. Dann aber kam der Durchbruch.
Die enorme Nachfrage nach Märchen griffen natürlich andere Autoren auf und schrieben Kunstmärchen. Die heute wohl berühmtesten verdanken wir Wilhelm Hauff, der gerne Abenteuer in Märchen kleidete, wie etwa „Das Wirtshaus im Spessart“ oder „Der Scheich von Alexandria“
Bonuswissen (Klugscheiß-Modus)
Deutsche Märchen
zeichnen sich durch eine starke Gemengelage aus, die mit einem Blick auf die Landkarte wenig überraschend ist. So zentral wie Deutschland in Europa liegt, trafen sich hier seither Menschen aus allen Richtungen. Und mit ihnen ihre Geschichten. So ist im deutschen Märchengut, wie wir es durch die Gebrüder Grimm oder die Sammlungen von Ludwig Bechstein kennen, Motive aus Italien, Frankreich und England ebenso wie aus Osteuropa und dem Orient. So entstand eine bunte Mischung aus heiteren, derben, düsteren und melancholischen Märchen aller Genres und Motivgruppen.
Französische Märchen
haben eine unleugbare Vorliebe für Zauber- und Feenmärchen, die eine häufig wehmütige Grundstimmung auszeichnet. Das mag daran liegen, dass es der Bevölkerung seit dem 17. Jahrhundert überwiegend schlecht ging. Kindestötungen, Aussetzen oder auch Verkauf von überzähligen Familienmitgliedern war traurige Realität in einer von Hunger, Armut und Willkür gezeichneten Zeit. Bettelei, Armut, Krankheit und Verstümmelung sind daher wiederkehrende Themen.