Chemie für Protagonisten

Schreibstube: Chemie für die Charakterentwicklung

Neben heroischen Taten, skrupellosen Verbrechen, genialen Aktionen und dramatischen Wendungen interessiert uns beim Lesen vor allem auch was sich zwischen den Figuren entwickelt. Ob das nun das Verhältnis des mehrfach gebrochenen Helden zu seiner Familie oder die Beziehung zwischen der kühlen Ermittlerin und dem genialen Verbrecher ist oder auch einfach nur die Beobachtung, wie sich eine Liebesgeschichte entspinnt – oder auch dramatisch endet.

Mit anderen Worten, wer sich seiner Geschichte verpflichtet fühlt, kommt nicht umhin, sich mit Chemie zu befassen. Der Chemie zwischen den Figuren. Man kann auf eine „natürliche“ Entwicklung im Feldversuch setzen und einfach drauflosschreiben, in der Hoffnung, dass die Dialoge und Aktionen am Ende stimmig werden. Man kann es allerdings auch etwas theoretischer angehen und planen.

Und auch, wenn man eher der intuitive Bauchschreiber ist, der Schneeflocken draußen lassen möchte, schadet es nicht, sich die Technik mal anzusehen. Inspiration sozusagen!

Und darum gehen wir das in diesem Artikel unserer Schreibstube mal gewohnt wissenschaftlich an!

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Die Chemie muss stimmen

Eine spontane, wie immer nicht repräsentative Umfrage in der Skoutz-Redaktion hat ergeben, dass tatsächlich die Qualität eines Buches erheblich auch anhand der Art beurteilt wird, wie die Charaktere miteinander umgehen. Mit anderen Worten, ob die Chemie stimmt, die Interaktion glaubhaft, logisch, mindestens nachvollziehbar, besser aber noch mitreißend ist.

Wie aber gelingt das? Worauf kann/muss/soll man beim Schreiben achten?

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Jeder Charakter muss stimmig sein

Zunächst einmal muss jede Figur so ausgearbeitet werden, dass der Leser sie „kennt“. Ich persönlich lasse sie auf mich wirken und entwickle sie meist anhand von eher klischeehaft skizzierten Prototypen im Laufe der Handlung. Ich lerne sie tatsächlich erst im Laufe des Schreibprozesses kennen. Wobei ich hier tatsächlich immer darauf achte, dass jeder Entwicklungsschritt, jede Antwort logisch ist und entweder aufgrund der Grundausstattung der Figur oder der Handlung nachvollziehbar ist. Viele Kollegen psychologisieren erst einmal und arbeiten an und mit ihren Figuren. Was sind ihre Wünsche, ihre Ängste, was treibt sie an, was regt sie auf?

Wir, die wir den Figuren in ihrer Geschichte über die Schulter schauen, müssen sie jedenfalls verstehen. Kennen. Oder wenigstens neugierig auf ihre Geheimnisse sein. Wichtig ist, dass jede Figur ihre Funktion in der Geschichte hat. Hier ist das Leben toleranter als der Plot. Wer nichts beizutragen hat, sollte im Buch auch rausfliegen.

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Chemie für Figuren 2

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Spannend wird es in der Reaktion

Wenn die verschiedenen Figuren dann aufeinander treffen, ist eigentlich aus einer gewissen Lebenserfahrung heraus schon klar, was passieren dürfte. Ob es kracht oder funkt. Wo es passt und wo es hakt. Der Leser hat da eine Erwartung, die von den Figuren erfüllt werden kann – oder eben nicht.

Spannender wird es, wenn sie sich dann in einer Situation begegnen, die diese „normale“ Reaktion nicht zulässt und die Figuren sich bewegen müssen.

Die Chemie einer Geschichte verlangt, dass die Figuren aufeinander reagieren. Sie abstoßen oder anziehen, sich dadurch individuell verändern oder gemeinsam etwas neues gestalten.

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Molekular-Chemie für die Protagonisten

Wie sich die Spannung entwickelt, hängt auch davon ab, wer sich wie begegnet. Oder um bei dem Chemie-Beispiel zu bleiben, wie sich die Protagonisten-Atome zu Story-Molekülen verbinden.

Moleküle sind nämlich, vereinfacht gesagt, zwei- oder mehratomige Teilchen, die durch chemische Bindungen zusammengehalten werden.

Wie würde man die Figuren auf einer Petri-Schale anordnen?

  • Zwei Figuren, die ein Liebespaar (starke Anziehung), Freunde (starke Bindung) oder Gegner (Abstoßung) sind.
  • Drei Personen, meist so, dass ein Dritter die Zweierbeziehung stört. Denkbar ist aber auch eine Dreiecksbeziehung, in der alle Figuren interagieren.
  • Vier Personen, meist mit wechselnden Beziehungen unter- und zueinander.

Das lässt sich natürlich wie in der Chemie auch variieren, denn jedes Protagonisten-Atom kann natürlich mit mehreren anderen zusammen verschiedene Moleküle bilden, in der Schule, in der Familie, unterwegs zum Schicksalsberg, in Gefangenschaft.

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Reaktionsbeschleuniger für das Story-Labor

Wenn nun ein Gefühl dafür vorhanden ist, wie die Figuren zueinander stehen und wie das Story-Molekül aussehen soll gilt es das nun umzusetzen, also in Worte zu fassen. Da kann es schon mal passieren, dass die Figuren sich zieren und einfach nicht im Text das richtige Gefühl, das gewünschte Maß an Spannung transportieren.

Dafür haben wir ein paar Reaktionsbeschleuniger in der Schreibstube entwickelt.

Humor

Humor verbindet. Und damit ist er ein hervorragendes Mittel, um die Figur sowohl dem Menschen vor dem Buch nahezubringen, als auch den anderen Protagonisten. Nichts verbindet mehr als miteinander lachen. Nichts trennt nachhaltiger als jemanden zu verlachen.

Erinnerungen

Wenn die Figuren eine Geschichte haben, die sie verbindet, kann das Trennen oder Verbinden. Oder beides. Spannend und extreme Reaktionen hervorrufend ist immer ein ungelöster Konflikt aus der Vergangenheit.

Gemeinsame Aufgaben

Wenn man etwas mit- oder auch gegeneinander schaffen will, löst das unweigerlich auch Gefühle aus. Mit einem solchen Szenario zwingt der Plot die Figuren in die Interaktion. Das präzisiert die Beziehung zwischen den Figuren. So kann man die große Liebe ebenso wie den Erzfeind finden.

Vertrauen

Wenn die Figuren sich vertrauen, ist das ein Nährboden für starke Gefühle. Es beweist Liebe und es begründet (wenn es missbraucht wird) ebenso tiefsten Schmerz und unversöhnlichen Hass

Zeit

Auffallend oft lassen Autoren ihren Figuren zu wenig Zeit. Selbst wenn man sich auf den ersten Blick zueinander hingezogen fühlt, trifft man sich doch nicht meist im nächsten Moment in der Besenkammer. Oder auf dem Pausenhof für die klärende Schlägerei, wenn es eher um Abneigung ging.
Dieses Knistern, das sich hingezogen fühlen (oder sich über den anderen aufregen), ist ein Momentum, über das sich enorme Spannung aufbauen kann und das man beim Schreiben nutzen sollte!
Und auch dann ist es der Spannung förderlich, wenn sie zwei Feinde nicht sofort gegenseitig töten (klar, dann geht es ja außerhalb von Zombie-Romanen auch nicht mehr weiter). Ebenso wie Liebespaare sich nicht sofort das Ja-Wort geben sollten oder zusammen in die Kiste hüpfen. Ein Blick, eine Berührung, ein doppelbödiger Dialog … das feiern die Leser, das macht einen Bestseller!

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Spannung beschreiben, ohne sich die Finger zu verbrennen

Beim Lesen wollen wir alle mitfühlen! Mitfiebern, mitleiden. Himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt den Protas durch die Seiten folgen … Also beschreibt, was passiert. Die Freude am Beobachten, am Entdecken macht die Geschichte gut. Die spannende Frage … wie werden die Helden der Geschichte reagieren?

Damit sind wir beim bekannten „Show, don’t tell„. Geht in die Szene rein, lasst die unversöhnlichen Gegner die Fäuste ballen, mit den Zähnen knirschen oder sich nach einem Knüppel umschauen. Oder eben, wenn es um Freundschaft geht, beschreibt das Gefühl der Vertrautheit, der Gemeinsamkeit, der Sicherheit, die es bedeutet, nicht allein zu sein. Bei Liebe sind es die zufälligen Berührungen, derer sich die Figuren so bewusst wie ihre Mitleser sind, die Blicke. Sagt nicht, was sie fühlen, sondern wie sie es fühlen.

Wie kann man zeigen, dass sich die Figuren gegenseitig interessant finden?

Hier ein paar einfache Kniffe, die szenisch zeigen, dass da was läuft …

  • Sticheleien
    Im Guten wie im Schlechten kann man durch kurze spitze Bemerkungen deutlich machen, dass die Figuren sich füreinander interessieren (das ist im Prinzip die Umsetzung von Humor als Reaktionsverstärker)
  • Ritualisierte Sprüche
    Wenn sich zwei Menschen „Dicker“ und „Zicke“ nennen und dabei lachen, zeigt das, wie nahe sie sich stehen. Wenn eine Figur von ihrem Konkurrenten nur in der dritten Person spricht, zeigt das, wie sehr sie diesen verabscheut.
  • Beobachten
    Menschen, die einen beschäftigen, beobachtet man. Das sind die, die man liebt, ebenso wie die, über die man sich aufregt. „Was macht er denn jetzt schon wieder?“, „Allein, wie der grinst!“.
    Wenn man unsicher ist, schaut man automatisch entweder zu der Person, die man liebt (um sich zu verstärken) oder der, die man fürchtet (um sich zu schützen – oder um zu drohen).
  • Kennen
    Einen weiteren Effekt hat das Beobachten natürlich auch noch: Freunde, Liebende und Feinde kennen sich. Da reichen kleine Gesten, nonverbale Zeichen, die der andere sicher deuten kann. Das reicht bis an Gedankenlesen. Was enorme Nähe signalisiert, wenn die eine Figur ausspricht, was die andere sagen wollte.
  • Vertrauen/Misstrauen
    Hoffnung, Glauben, Abscheu, Sachzwang … Es lebe das Dilemma! Wenn zwei Feinde sich für ein großes Ganzes benehmen müssen. Wenn zwei Liebende sich zur Überwindung einer Gefahr vertrauen müssen. Oder wenn zwei Freunde sich nicht abstimmen können, sondern hoffen, dass der jeweils andere richtig reagiert… Das sind Pageturner!

 

Was funktioniert meistens nicht?

In Rezensionen von Büchern wie auch Filmen liest man gern, dass die Chemie nicht gestimmt hätte, dass der Funke nicht übergesprungen sei. Und das liegt nicht daran, dass der Plot nicht reichlich Gelegenheiten für alle Arten von Gefühlen bieten würde.

Meist liegt das an einem der folgenden Fehler:

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Fehlender Respekt vor dem Charakter

Und wenn der Einfall noch so gut ist – mit einem einzigen Satz kann man seine Figur irreparabel verbeulen und dem Leser wie auch dem Plot entziehen. Überlegt also immer an jeder Stelle, bei jedem Satz: „Würde das die Figur so sagen?“ Und im zweiten Durchgang: „Wie wirkt die Figur, wenn ich ihr auf der Straße begegnen würde?“ – Sehr oft zeigt sich dann, dass eine starke Protagonistin nicht dadurch entsteht, dass sie herumzickt, und ein Held oft mutiger ist, wenn er nicht zum Schwert greift.

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Plot vor Charakter

Es ist nichts ärgerlicher, als wenn die einzig denkbare Begründung für das Verhalten einer Figur die ist, dass es so im Drehbuch steht. Egal, wie wichtig es für den Plot wäre, dass der stille Computernerd in einer Szene über seinen Schatten springt und der Schulschönheit einen sexistischen Spruch hinwirft, wenn das nicht entwickelt und begründet wird, wird es dem Buch trotzdem schaden. Das ist Autoren-Handwerk, dass die Charakterentwicklung und die Plotgestaltung sich gegenseitig fördern und nicht bedingen. Wenn es hier zu einem Entweder-Oder kommt, haben wir beim Schreiben gepfuscht.

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Fehlende Reibung zwischen den Charakteren

Im Guten wie Schlechten ist es schnell langweilig, wenn sich die Figuren einig sind. Zu große Harmonie ist der Spannung abträglich. Das gilt übrigens auch bei Gegnern, wenn sich beide einfach nur gegenseitig an den Hals wollen, erschöpft sich die Spannung in der Action-Szene. Aber spannend ist es, wenn sich der Held nicht rächen darf, wenn die Heldin dennoch versucht, den Bösewicht zu verstehen, wenn die Liebenden erst einmal über den eigenen Schatten springen müssen, um miteinander glücklich zu sein. Das ist auch einer der Gründe, warum Zeit für die Figuren so wichtig ist.

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Der satirisch überhöhte Held

Auch wenn ihr beim Schreiben in eure Figuren verliebt seid, lasst ihnen Schwächen und Kanten. Macht sie nicht zu gut! Gewachsene, nicht aufgesetzte. Lasst sie nicht nur am Plot, sondern auch an sich scheitern. Lasst sie nach den richtigen Worten ringen, die Gelegenheit verpassen, etwas missverstehen und dann bereuen. Wenn sie aus ihren Fehlern lernen, sie sich gegenseitig verzeihen (oder auch nicht), dann sind sie echt. Weder den Guten noch den Bösen will man als perfekten, übermächtigen, überschlauen … Wasauchimmer haben. Es hat Gründe, warum die Siegfrieds dieser Welt tragisch sterben. Weil man sie nicht mag. Hagen, der mit sich hadert, der um eine Entscheidung ringt, ist viel spannender.

 

Bonuswissen: Die Wahlverwandtschaften – Ein Klassiker der Chemie zwischen Figuren

„Nirgends wollte man zugeben, daß Wissenschaft und Poesie vereinbar seien. Man vergaß, daß Wissenschaft sich aus Poesie entwickelt habe, man bedachte nicht, daß, nach einem Umschwung von Zeiten, beide sich wieder freundlich, zu beiderseitigem Vorteil, auf höherer Stelle, gar wohl wieder begegnen könnten“

So schrieb Goethe 1817 über den Umgang mit Wissenschaft und Poesie in seinen „Wahlverwandtschaften“.

In diesem 1809 veröffentlichtem Roman „Die Wahlverwandtschaften“ geht es um die Geschichte des zurückgezogen glücklich lebenden Paares Charlotte und Eduard, deren Ehe durch das Hinzukommen zweier Gäste  zerbricht. Goethe, der sich sehr für Naturwissenschaften interessiert“, schuf hier quasi unter Laborbedingungen eine Studie zu Reaktionen verschiedener Charaktere aufeinander und miteinander.

Die vernunftbetonte Charlotte verliebt sich in den verständig-tatkräftigen Hauptmann Otto. Ihr eher leidenschaftlicher Ehemann Eduard verfällt der jugendlichen, stillen Ottilie. Herauskommt ein dramatischer Konflikt zwischen Konvention und Wunsch. Leidenschaft und Vernunft und führt geradewegs ins Chaos.

Der Roman wurde schon zu seiner Zeit als „eine einzigartige Synthese von Literatur und Naturwissenschaften“ gefeiert (Adler 1987, S. 9). Der Name der „Wahlverwandtschaft“ wird in der Chemie des 18. Jahrhunderts benutzt, um die Eigenschaft einiger chemischer Elemente zu beschreiben, bei der Annäherung anderer Stoffe ihre bestehenden Verbindungen lösen und sich mit den neuen Elementen vereinigen.

Der Roman überträgt diese Theorie der Wahlverwandtschaften auf menschliche Verhältnisse. Offensichtlich hat  Goethe großes Vergnügen, hier mit Menschen statt mit Stoffen zu experimentieren.

Wer sich dafür interessiert, kann den Roman hier kostenlos bei readfy* lesen oder über Hörbuch.com* hören.

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