Warum sollte man Klassiker lesen?

Ja, das ist die Frage aller Fragen. Warum sollte man die ollen Schinken aus dem Jahre Schnee lesen, wenn doch Jahr für Jahr mehr Bücher neu erscheinen, als man in einem durchschnittlichen Leseleben konsumieren kann? Wurden wir in der Schule mit dem Stoff noch nicht genug gequält? Nein! Oder vielmehr schon, zu viel sogar, denn dann wäre der Ruf besagter oller Schinken besser.

An dieser Stelle also ein Plädoyer für die Klassiker und gute Gründe, sie zu lesen.

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Klassiker sind klasse

Das ist, wir geben es zu, eine steile These und natürlich kann man sich fragen, was ein Buch aus dem 16. Jahrhundert über einen verwirrten Ritter, der gegen Windmühlen kämpft, uns heute noch zu sagen hat. Ebenso berechtigt ist die Frage, ob diese Zeit nicht verrückt genug ist, um sich zusätzlich das pubertäre Getue um eine Zufallsbekanntschaft durchzulesen, das nach ein paar Tagen ganz und gar toxischer Verliebtheit in einem Doppelselbstmord endet. Sind die Probleme eines jüdischen Kaufmanns im von Kreuzrittern belagerten Jerusalem, seine Tochter zu verheiraten, für uns heute wirklich noch relevant? Interessiert uns der Niedergang eines Generals aus dem 30jährigen Krieg?

Ja, denn erstaunlicherweise sind jene ollen Schinken, die man für Klassiker hält in den allermeisten Fällen schockierend aktuell und sprechen moralische, emotionale und auch ganz reale Situationen an, mit denen wir uns heute auch noch herumschlagen. Darum ist zunächst einmal eine ganz andere Frage interessant:

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Was macht ein Buch zum Klassiker?

Diese Frage ist eigentlich einen eigenen Artikel wert und den könnt ihr bei uns hier nachlesen. Verkürzt gesagt sind Klassiker Bücher, die entweder die Erzählkunst oder das Publikum ihren Stempel aufgedrückt haben.  Damit ist ein Buch ein Klassiker, wenn es auf irgendeine Weise Einfluss nehmen konnte. Auf andere Bücher, auf nachfolgende Erzähl- und Sichtweisen, auf die Gesellschaft.

Die Kenntnis von Klassikern ist Teil unserer Allgemeinbildung. Das Grundgerüst, das uns erlaubt, Querverbindungen zu ziehen und durch Transfer und Rückschluss einigermaßen sicher auch auf neuem Terrain zu bestehen. Vielfach wird in Zitaten und Redensarten vorausgesetzt, dass man Goethes Faust oder Schillers Glocke kennt. Weder unsere Technik hätte sich ohne die Gedankenmodelle von Jules Verne und Isaac Asimov so entwickelt, noch gäbe es ohne Doyles Sherlock Holmes heute die CSI-Irgendwas TV-Serien.

Klassiker wirken nach

So, wie wir wissen wollen, woher wir kommen, wer unsere Vorfahren waren, so sollten wir uns auch Gedanken darüber machen, warum wir so denken, wie wir denken. Wo unsere Werte, Gewohnheiten, moralischen Grundsätze herkommen. Neben der Philosophie spielen hier die Geschichten, mit denen wir bzw. unsere Vorfahren leben und lebten, eine entscheidende Rolle. Ebenso erlaubt ein Blick in die Klassiker anderer Kulturen, der russischen oder chinesischen etwa, auch eine Annäherung an deren Weltsicht und erleichtert das, was wir alle zu allen Zeiten dringend brauch(t)en: Verständnis.

Klassiker sind zeitlos

Die Psychogramme wie sie William Shakespeare zeichnet, treffen auch auf moderne Menschen zu. Die Sorge von Goethes Faust würde man heute als Jugendwahn und Midlife-Crisis bezeichnen. Wie George Eliot in ihrem 1874 erschienenen Middlemarch die sozialen Mechanismen einer Kleinstadt beschreibt, helfen auch im heutigen Umgang mit Facebook.

Klassische Geschichte(n)

Bücher sind Zeitzeugen, sie schildern eindrucksvoller als das im Geschichtsunterricht möglich ist, wie Menschen damals lebten, dachten und fühlten. Und hier haben Klassiker gegenüber modernen historischen Romanen den großen Vorteil, dass sie von Zeitzeugen geschrieben wurden, also Menschen, die dabei gewesen sind.

Klassiker und Sprachgefühl

Wir finden ja, dass Bücherliebe und Sprachverliebtheit zusammengehören. Die Freude an schönen Formulierungen, an der Entwicklung unserer Sprache als Ausdruck des Zeitgeists ebenso wie unserer Gefühle. Und auch hier bereiten Klassiker viel Freude, weil sie unser Sprachgefühl schärfen, zeitlos schöne Formulierungen bieten und oft auch Sprache in handwerklicher Vollendung zeigen.

… und Zeitgefühl …

Oft wirft man Klassikern Langatmigkeit vor. Aber wieviele Menschen wünschen sich Entschleunigung, wie wohltuend ist es, dem Hamsterrad zu entkommen? Sind nicht vielleicht wir zu schnell und nicht die Klassiker genau richtig? Sie zeigen nicht nur, wie viel Zeit man früher hatte, sondern lassen sich auch selbst Zeit mit dem Erzählen. Schildern in Zeiten, in denen man den Begriff Kopfkino mangels Kino noch nicht kannte, Örtlichkeiten und lassen auch den Leser zur Ruhe kommen, indem sie gerade nicht von Cliffhanger zu Cliffhanger hetzen. Und das tut, wenn man sich darauf einlässt, richtig gut.

… oder nur Gefühl

Wir sind es gewöhnt, dass uns bis zur Farbe der Schamlippen alles vorgekaut wird. Moderne Erotik ist eher sportlich detailliert als sinnlich fantasievoll. Das hat seinen eigenen Reiz. Aber die Fantasie, das Gefühl, das Unausgesprochene … das findet man in den Klassikern. Egal, ob Romeo und Julia Vögel betrachten, Mr. Darcy endlich Elisabeths Finger streift oder Richard Cypher mit Kahlan einen Apfel isst. Und ganz erstaunlich ist, wie beeindruckend die klassischen Ladys auch unter modernen Aspekten sind (gerade, wenn man sieht, wie schwer sie es damals oft hatten) und wie attraktiv die Helden von damals bis heute.

Klassiker und Bildung

Niemand wehrt sich, wenn er für schlau gehalten wird. Jeder freut sich, wenn man mit seiner Meinung ernst genommen wird. Und ganz ehrlich – einfacher als mit dem Lesen der Klassiker bekommt man die dafür erforderliche Allgemeinbildung nirgends. Denn die wirken – siehe oben – gleich auf mehreren Ebenen.

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Klassisch lesen

Macht euch frei von der im Deutschunterricht vermittelten Lesetechnik. Macht euch frei davon, dass ihr einen Klassiker lest. Weder Walther von der Vogelweide noch Max Frisch wollten, dass ihr euch den Kopf darüber zerbrecht, warum sie betonten, dass die Blume in der Hand der Liebsten blau ist. Lasst es wirken. Lest einfach. Lasst euch auf die Geschichte und nur auf die Geschichte ein. Analysiert sie nicht, sondern lasst sie wirken.

Natürlich entsprechen Klassiker oft nicht den modernen Lesegewohnheiten. Sie unterscheiden sich in Sprache, Form und Gestaltung von dem, was die Neuerscheinungen bei Amazon bieten. Dramen zu lesen ist anstrengend, weil man weder den Erzählstil noch die Blankverse gewohnt ist. Aber das kann ja auch mal reizvoll sein. Aber ansonsten …? Lasst euch von der viel gerühmten philosophischen Tiefe, den Metaphern und Gleichnissen nicht verrückt machen.

Wenn wir uns nicht quälen, wie handwerklich genial die Binnenerzählung in die Rahmenhandlung eingebettet ist, wenn wir nicht über die Symbolik des Schimmels sinnieren, sondern einfach Hauke Heins Geschichte folgen, dann ist der Schimmelreiter wirklich eine großartige Geschichte.

Lasst euch auf die Sprache ein, auch das gehört zur Zeitreise dazu. Und freut euch, wenn ihr plötzlich Zitate erkennt, wo ihr vorher nur Sprüche gehört habt. Oder wenn Faust ganz im Stil moderner Anti-Aging-Parolen über das Altern sinniert und uns Tom Sawyer erklärt, wie Empfehlungs-Marketing funktioniert.

Und dann, wenn wir mit einem Buch-Hangover aus dem Leseabenteuer wieder auftauchen, dann – und erst dann – kann es sehr, sehr spannend sein, sich einmal anzuschauen, wie die Großen es gemacht haben, uns so zu packen. Speziell, wer selbst schreibt, kann hier lesend lernen.

 

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