Zu Besuch bei Barbara Sichtermann
Wir sind heute unterwegs, um wieder mal eine sehr interessante Autorin persönlich kennenzulernen.
Barbara Sichtermann steht mit ihrem Titel „Mary Shelley: zwischen Freiheit und Liebe“ auf der Midlist History von Kay Noa. Es ist für uns immer schön, Autoren zu besuchen, wir wir bisher nicht kennenlernen durften.
Mit vielen Fragen und voller Elan haben wir uns auf den Weg gemacht und sind auch schon angekommen.
Zu Besuch bei Barbara Sichtermann, die kein Lebensmotto hat
Hallo liebe Barbara, wir freuen uns sehr, dass du heute für uns Zeit hast und wir dich besuchen dürfen. Wir haben eine Menge Fragen im Gepäck und freuen uns schon auf das Gespräch mit dir. Schau mal, hier unser Skoutz-Kauz ist ein notorisch neugieriger kleiner Kerl. Er schaut sich gerade schon bei dir um ….
Wo sitzen wir denn, also wo willst du uns empfangen?
Ich empfange Euch in meinem Wohnzimmer, das sehr groß und gemütlich ist – in einem Altberliner Mietshaus, gebaut 1897, mit Stuck, Parkett und einem Erker zur Straße.
WOW, du hast es wirklich schön hier. Ich liebe Stuck und der Erker zur Straße ist super. Ich empfinde das ein wenig wie eine kleine Zeitreise.
Man gerät sogleich in eine historische Stimmung. Ich frage Euch, was Ihr trinken möchtet, und nachdem der Kauz gesagt hat: Gar nichts, danke schön, bringe ich Wasser.
Wunderbar, Wasser ist super!
Nach welchem Motto lebst du? Und wirkt sich das auch auf dein Schreiben aus?
Habe ich ein Lebensmotto? Ich wüsste nicht.
OK, man muss ja kein richtiges Lebensmotto haben. Vielleicht eine andere Art von … Orientierungshilfe?
Aber ich kann sagen, was mir wichtig ist. Das ist vor allem genug Muße für meine Arbeit, für die Schriftstellerei. In meinem Freundeskreis und in meiner Familie bin ich berüchtigt als furchtbar fleißig und als workaholic.
So wie du das sagst, ist das für dich aber keine wirkliche Belastung, oder?
Genau! Der Witz ist aber, das meine Arbeit für mich eine Riesenfreude ist – obwohl zuweilen natürlich sehr anstrengend. Genügend Zeitraum für die Liebe, die Familie und meine bezaubernde Enkelin muss allerdings auch bleiben.
Das ist ja klar, die Familie, du und alles andere darf ja nicht zu kurz kommen.
Was ist dein erster Gedanke, wenn ich dich frage, was du GAR NICHT magst?
Leeres Gerede und prätentiöses Gehabe.
Mag das jemand? Solche Leute sind ja sprichwörtlich nervensägend. Was mich zur nächsten Frage bringt …
Als Klischee wird man nicht geboren, sondern muss sich den Titel erarbeiten. Klischees sind so praktisch wie lästig. Wie gehst du persönlich mit ihnen um? Beim Schreiben wie im Leben?
Klischees sind ja ursprünglich so etwas wie Druckstöcke, von denen man immer wieder die gleichen Abzüge machen kann. Was der Skoutz-Kauz jetzt wohl meint, sind Stereotypen. Die sind beim Schreiben manchmal wichtig.
Ja, finde ich als Leser auch. Insofern hat sich der ursprüngliche Begriff ja auch auf gesellschaftliche und persönliche Beobachtungen erstreckt und da längst eine eigene Bedeutung erhalten. Warum ist das deiner Meinung nach speziell beim Schreiben wichtig?
Man kann nicht immer per Zoom ganz nah an die Figuren ran, die man schreibend entwickelt. Oftmals muss man es bei einer Halbtotalen belassen und da wird die Zeichnung von Stereotypen wichtig.
In welchen Genres schreibst du? Hast du dich bewusst dafür entschieden oder hast du nachher überlegt, wie du deine Geschichte einordnest?
Gute Frage.
Da sind wir für bekannt …
Ich bin als Essayistin und Sachbuchautorin gestartet, und insoweit Biografien unter Sachbücher fallen, bin ich immer noch in diesen Genres unterwegs. Aber für Romanbiografien braucht man mehr Fantasie, obschon die Faktentreue wichtig bleibt.
Dann war das also eher ein schleichender Prozess?
Ich würde mich eher zu den Schriftstellerinnen zählen, die von einem Thema oder einer Figur ausgehen, und sich erst hinterher oder im Laufe der Arbeit über das Genre, in dem sie nun gelandet sind, Gedanken machen.
Das klappt ja genauso gut, wie andersrum. Und ich finde Romanbiografien immer besonders schön zu lesen, weil sie einerseits spannend und andererseits eben auch lehrreich sind. Das Leben schreibt eben immer noch die besten Geschichten, auch wenn es sich dabei dann einer Ghostwriterin bedient. 🙂 Du hast gesagt, du seist sehr akurat in deinem Arbeiten …
Von wem kommt deine strengste Kritik? Und wie gehst du mit ihr um?
Oh weia.
Oh, warum Oh weia?
In meinem engeren Umfald ernte ich fast nur Ermutigung, und mit meinem Lebensgefährten arbeite ich sogar zusammen. Bei dieser Zusammenarbeit fällt natürlich Kritik an („Nee, das lassen wir besser weg …“), aber das ist eher sowas wie eine konsensuale Entscheidung, keine „strenge“ Kritik.
OK, bei einer gemeinsamen Arbeit ist das auch anders. Da entsteht ja etwas, das man zu zweit erarbeitet, das würde ich auch eher als Mitsprache denn als Kritik an einem „fremden“ Werk betrachten. Und sonst …?
Als ich zu schreiben begann, das ist jetzt bald fünfzig Jahre her, und ich schrieb nahezu ausschließlich über feministische Themen, stieß ich auf harte Kritik innerhalb der Frauenbewegung, die mir eine zu positive Einstellung zu den Mannsleut und zum Kinderkriegen vorwarf.
WOW, tatsächlich?
Da habe ich manchmal schlucken müssen, meine Standpunkte aber nicht geändert.
Das finde ich gut und richtig, wenn ein Standpunkt nicht einfach so geändert wird, weil jemand etwas anderes sagt. Auch, um durch aufgeregte Zeiten mit lauten Meinungen eben auch Alternativansätze hindurchzuretten.
Ein Sprichwort sagt „Ein Buch ist wie ein Garten, den man in der Tasche trägt.“ – Wie findest Du diesen Satz?
Der Satz gefällt mir gut. Man spaziert ja wirklich bei der Buchlektüre in einem Gedanken- und Vorstellungsgelände herum, und wenn es gut läuft, atmet man auch eine Art Duft.
Das stimmt. Und genau diese Geschichten sind es, die ich so liebe, wenn sie das mit mir machen.
Mit welchem Buch wurde deine Liebe zu Büchern geweckt?
Mein Lieblingsbuch seit eh und je ist „Pu der Bär“ von A.A. Milne; es ist ein geniales Buch, weil es die Erfahrungswelten der Kindheit, das Lesenlernen und Welt-Erkunden wunderbar zusammenfasst.
Oh ja, das gehörte in meiner Kindheit auch unbedingt dazu!
Und in einem gewissen Sinne bleiben wir immer Kinder.
🙂 Und wie ging es dann im Buchregal weiter?
Weitere Erweckungserlebnisse waren „Das Kapital“ von Karl Marx (in Bezug auf Erkenntnis) und „Lolita“ von Wladimir Nabokov (in Bezug auf Stil).
WOW, das sind ja Schwergewichte…
Wie sortierst du deine Buch-Regale?
Ich habe einige tausend Bücher, die in allen meinen Räumen, sogar im Gästezimmer, auf Regalen stehen.
Oh, das sind aber viele. Ich denke, bei 1000 Büchern bin ich auch, aber mir fehlt ein wenig der Überblick darüber. Wie behältst du da deinen?
Die Belletristik sortiere ich nach Ländern, die Sachbücher nach Themen oder Fachbereichen (Geschichte, Politik, Ökonomie, Erziehung, Literaturwissenschaft, Lyrik, Theater, Film). Sonderregale gibt es für die Frauenbewegung und für Zeitschriften.
Tolle Sortierung! Jetzt hätte ich spontan Lust zu stöbern! Aber du hast das vorhin mit der Kritik der Frauenbewegung erwähnt. Lass mich da nochmal etwas anders gefragt nachfassen.
Die gesellschaftliche Diskussion über das, was man in der Kunst tun und lassen darf, ist zur Zeit sehr hitzig. Wie stehst du dem gegenüber und wie beeinflusst das deine eigene Arbeit?
Ich bin verzweifelt, wenn ich von der Umschreibung von Klassikern wie Astrid Lindgren oder Rouald Dahl lese und halte das Sensitivity Reading, das manche Verlage sich antun, um Ärger im Vorfeld zu ersticken, für Vorzensur.
Auch wenn es Ärger gibt?
Ärger im Literaturbetrieb ist gut und soll sein. Dieses Pampering des Lesepublikums durch Trigger-Warnungen ist Blödsinn. Mein Schreiben beeinflusst das alles nicht.
Ich beobachte das auch mit viel Argwohn. Diese immer weiter gehende Garantie, nur ja nicht mit unangenehmen, unliebsamen oder unwillkommenen Gedanken belastet zu werden, führt ja auch in eine Scheinwelt. Nur, weil wir nicht mehr darüber reden, geht es nicht weg und so werden wir auch nicht die Ursachen, weder persönlich noch als Gemeinschaft überwinden können.
Ich hab noch ein anderes „heißes Eisen“…
Chat GPT und andere KI-Apps. Was hältst du davon, dass KI Geschichten, ja ganze Bücher alleine verfassen kann? Sind das für dich überhaupt richtige Werke?
Ja, okay, ich bin gewappnet für einen Ring- oder Konkurrenzkampf auf dem Felde der Literatur mit ChatGPT und jeder anderen KI.
Das klingt schön kämpferisch und selbstbewusst. Mit deiner Erfahrung hast du bestimmt auch schon einige andere Herausforderungen im Literaturbetrieb überstanden. Aber ich glaube, wir müssen eh erst noch abwarten, was uns die KI alles noch so bringt. Da warten wir einfach ab und nutzen die Zeit für eine Besichtigung deiner Büchersammlung. Nur eine abschließende Frage hätte ich noch …
Welche Frage sollen wir dir nächstes Jahr im Interview stellen?
Was immer das Käuzchen nach diesem ersten Interview für interessant hält.
Liebe Barbara, OK, wir lassen uns bestimmt etwas einfallen. Unser Skoutz-Kauz hat dich ja auch ein wenig kennengelernt und findet dann auch für dich eine passende Frage. Wir möchten uns ganz herzlich bei dir bedanken. Für deine Zeit und deine Antworten. Wir haben die erlebte Zeitreise in deinem Wohnzimmer sehr genossen und haben uns total wohl gefühlt. Für den weiteren Wettbewerb wünschen wir dir viel Erfolg.
Danke und Ciao.
Hier gibt es mehr über Barbara Sichtermann:
Skoutz Lesetipp:
Die Ära der Avantgarde an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert war eine Zeit des Aufbruchs in allen Künsten und doch gaben immer noch die Männer den Ton an. Da betrat Anfang des 20. Jahrhunderts die Amerikanerin Isadora Duncan (1877 – 1927) die Bühnen der Welt. Sie war eine der Vorkämpferinnen für eine völlig neue Bewegungskunst. In Europa, wo das Ballett mit seiner übertriebenen Künstlichkeit bereits begann, sich Sympathien zu verspielen, empfing man sie mit offenen Armen.
Duncan machte als Solotänzerin eine beispiellose Karriere. Ihre Auftritte hypnotisierten das Publikum, sie tanzte als Erste barfuß und in losem Gewand. Mit ihren Ideen stand Duncan nicht allein da. Sie lagen im Zug der Zeit, die sich zunehmend für Freikörperkultur, Wandern, Turnen und ähnliche Reformideen begeisterte. Sie verstand sich als Feministin. Als Duncan ihre Tochter Deirdre geboren hatte, kam es für sie nicht in Frage, mit deren Vater Gordon Craig die Ehe einzugehen. Wegen dieses für die damalige Zeit skandalösen Lebenswandels entzogen ihr empörte Berliner Gönner die Zuwendungen für ihre dortige Tanzschule. In Paris, wo nicht selten tausende Zuschauer ihren Darbietungen folgten, konnte sie freier leben. Sichtermann und Rose beschreiben die ganz und gar einzigartige Lebensgeschichte der „Göttlichen“ in Form einer Romanbiografie.
Skoutz meint: Es ist immer faszinierend, wie viele große Geister einem viel zu kleinem Kreis bekannt sind. Und noch viel faszinierender, wenn sich dann Autoren wie Sichtermann und Rose dieses Missstandes annehmen und die Geschichte dieser Menschen erzählen. So wie die Geschichte von Isodora Duncan, die nicht nur ihres Tanzes wegen erinnert werden sollte, sondern auch für ihre Art, zu denken, zu fordern und zu leben. Ein spannendes Portrait einer einflussreichen Epoche am Beispiel einer interessanten Persönlichkeit. (kn)
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Hinweis:
Barbara Sichtermann steht mit ihrem Titel „Mary Shelley: zwischen Freiheit und Liebe“ auf der Midlist History von Kay Noa.Die Biografie befasst sich sich mit dem abenteuerlichen, aber viel zu kurzen Leben von Mary Shelley, einer der wohl faszinierendsten Autorinnen aller Zeiten.
Wir haben das Buch gelesen und euch hier auch schon vorgestellt.
Und wenn ihr uns, der Autorin und vielen anderen Lesern einen Gefallen tun wollt, rezensiert die Bücher doch anschließend bei unserer Skoutz-Buchsuche. Mit 5 Klicks statt 5 Sternen entsteht eine Buchbeschreibung, die anderen hilft, das für sie richtige Buch zu finden. Also sei dabei!