Brauchen wir Bücher in dunklen Zeiten
Heute schreibe ich persönlicher, denn das Thema quält mich seit Wochen und ich fürchte, ich bin damit nicht allein. Alle paar Jahre habe ich so Phasen, in denen mich der Besuch einer Buchhandlung, das Stöbern in Regalen einfach nicht mehr so packt. Das sind vermutlich Sättigungseffekte wie beim Essen. Der Hunger kam bisher immer zurück.
Das Leben eines Bookies in dunklen Zeiten
Etwas anders ist es aber in diesen dunklen Zeiten, wenn ich hin- und hergerissen bin, ob ich mir die abendlichen Nachrichten überhaupt antue. Einerseits will ich nicht wegschauen, kann ich schon beruflich nicht alles ausblenden, andererseits aber zieht mich die Flut der miesen News, an denen ich letztlich doch nichts ändern kann, in das Zentrum einer Depression. Innenpolitik, Außenpolitik, Umwelt, Gesellschaft, Buchmarkt und Sprache, Kunst und KI … Waaaaah!
Und zugleich wird gefordert, sich zu engagieren. Schweigen und Passivität seien so schimm wie aktives Unterstützen der falschen Meinung! Wer schweigt, diene blöd den Nazis, den ewig Gestrigen, den Schwurblern, den Ökofantasten, der Lobby … sucht es euch aus! Aber wenn mir die Kraft dazu fehlt? Sind die schlauer, die sich auf einem sinkenden Schiff um die begrenzten Rettungsbootplätze solange prügeln, bis das Boot kaputt ist, oder diejenigen, die lieber die Bar plündern und sich ins Koma saufen? Ich weiß es nicht und trudle zwischen Aufbegehren und Resignation so lange hin und her bis mir schwindlig ist und ich erschöpft zusammenbreche.
Natürlich macht das auch vor der Buchwelt nicht halt. Laut werden Bücher gefordert, die für ein modernes Gesellschaftsbild stehen und daher sollen Bücher geschrieben werden, die diese Themen adressieren. Das ist richtig und auch mein Ansatz als Autor, als Leser, als Buchmensch. Ich will das auch. Die mächtigste Waffe ist das Wort! Ja.
Wenn man Zeitgeist-Themen aufgreift, kann man im „ob“ und „wie“ so verdammt viel falsch machen. Und das will man ja nicht. Weil man der Sache dienen will, weil man die Botschaft ja auch wirken lassen möchte und – auch das ist ein Punkt – weil man keinen zusätzlichen, persönlichen Stress haben will, gerade in Zeiten, in denen wir uns ohnehin überfordert fühlen. Verdammt schwierig das alles, gerade für die, die mit Büchern einen Betrag zur Weltverbesserung leisten wollen.
Zugleich schreibe ich – ich gebe es offen zu – um Bücher zu verkaufen, also muss ich auch so schreiben, dass meine Bücher Käufer finden. Und da muss ich zwischen meinen guten Vorsätzen und meinen miesen Finanzen sorgfältig abwägen.
Es ist auch beim Lesen nicht anders. Die Liste der Autorinnen und Autoren, der Verlage oder Distributoren und Geschäfte, die man aus den verschiedensten Gründen – politischen, gesellschaftlichen, ökologischen – boykottieren sollte (und auch möchte), wächst stetig und uneinheitlich. Ich bin also gefordert, nicht mehr nur die Geschichte anzuschauen, die ich lesen will, sondern auch, wen ich womöglich mit dem Erwerb des Buches unterstütze. Auch die Forderung nach Quoten, Verboten und anderen hoheitlich regulativen Maßnahmen wird lauter. Oft ohne über die Neben- und Nachwirkungen differenziert nachgedacht zu haben.
Lesen hat seine Unschuld verloren
Damit passiert aber etwas, das ganz schrecklich ist: Wir nehmen dem Lesen, unserer wundervollen Leidenschaft die Unschuld! Wir wählen unsere Lektüre nicht mehr nach Lust und Laune, sondern unter Aspekten aus, für die wir uns verantwortlich fühlen. Ich zumindest finde es sehr schwer, diese zusätzliche nun einmal entstandene Prüfinstanz bei der Lektürewahl oder meiner Schreibarbeit auszublenden.
Ich vermisse es, einfach nur schmökern zu können, ohne dass ich Angst oder Sorge oder Erschöpfung, einen inneren Appell an verantwortungsvolles Lesen in meinem Leben verspüre. Dazu zwingt mich keiner, das kommt aus mir! Ich habe mich verändert, vielleicht verbessert, doch zu welchem Preis?
Verantwortungsvolle Lektürewahl?
Ich kann kein Buch mehr in die Hand zu nehmen, ohne den Klappentext und die Aufmachung auf Zeitgeist hin zu überprüfen. Unweigerlich und nur schwer unterdrückbar sinniere ich, ob das jetzt eine Moralkeule, ewig gestrig, berufsempört, quotenbasiert, Trendbaiting oder tatsächlich ehrlich ist. Ich frage mich, ob ich meine geliebten Klassiker noch empfehlen kann, weil sie überwiegend von weißen Männern geschrieben wurden und oftmals Texte ihrer Zeit sind, die so heute (vermutlich) anders geschrieben würden. Ob sie nicht trotzdem empfohlen werden sollten, weil man sie kennen muss, um zu verstehen, was wir heute diskutieren, wie wir heute schreiben, woher unsere modernen Mythen kommen? Weil das Woher eben wichtig für das wohin ist.
Ich frage mich beim Schreiben ständig, ob ich das so oder so schreiben kann, darf, soll. Wie ich außerhalb der Geschichte, die mein eigentliches Anliegen ist, dieses oder jenes Thema aufgreifen kann, soll oder besser ausspare.
Die Folge ist nicht überraschend – ich befinde mich seit einiger Zeit in einer tiefen Leseflaute, einem Desinteresse an Geschichten, die sich auch auf meine eigenen Veröffentlichungen auswirkt.
Viele Bücher, die ich beginne, beende ich nicht. Das liegt nicht daran, dass ich es nicht versucht hätte. Es liegt an mangelnder Energie, daran, dass ich mich von meinem Leben und der Welt im Allgemeinen überrollt fühle. Dass diese Themen so hartnäckig sind, dass mein Gefühl, etwas zu tun, sich auch auf mein Lesen auswirkt. Weder will ich noch beim Lesen damit belästigt werden, noch will ich meine Zeit nicht Banalitäten vergeuden. So verliert Lesen seine Grundfunktion in meinem Leben. Es ist für mich keine Erholung mehr, keine Alltagsflucht und kein ungetrübtes Vergnügen. Und das fehlt mir! Sehr.
Ursachenforschung in dunklen Zeiten
Keine Frage, egal, wie gut es uns hier in Deutschland gehen mag, die Zeiten sind fordernd. Kaum war uns in der gesellschaftlichen Breite bewusst geworden, wie verdammt wichtig Umweltschutz ist, kam der Lockdown mit Problemen, auf die wir nicht vorbereitet waren. Sie machten deutlich, wie dringend unsere Gesellschaft umgebaut werden muss. Kaum waren wir Corona entkommen, kam der Krieg. Wir stehen im Zentrum eines sich immer schneller drehenden Reigens riesiger Probleme, von denen jedes einzelne schon Fluchtreflexe auslöst.
Was also sollen wir mit Büchern in so dunklen Zeiten, wenn da kein Licht ist, um sie zu lesen?
Bücher und Verantwortung
Diese Frage scheint durchaus berechtigt. Wer verbringt Stunden in literarischen Welten, wenn Hochwasser sein Haus bedroht? Interessiert uns das Geplänkel imaginärer Figuren, wenn vor unserer Tür echte Menschen nach Gerechtigkeit rufen? Dürfen wir Zeit mit dem Nachträumen epischer Abenteuer verbringen, wenn wir nicht wissen, wie wir die nächste Miete bezahlen sollen?
Sind das Themen, die wir in unseren Geschichten abbilden müssen, wenn wir schon schreiben und so einen Beitrag zur Wegschau-Kultur leisten? Und dürfen wir wegschauen? Uninformiert sein? Müssen wir nicht unsere Kaufkraft nutzen, Zeichen zu setzen? Ein kleiner Beitrag, aber fraglos besser als nichts!
Das bleibt nicht ohne Folgen: Denn wo und wie können wir noch unser verkrampftes Hirn entspannen? Wo finden wir in dunklen Zeiten noch Zufluchtsorte?
Ganz klar: Wir verlangen nach Geschichten! Und darum ist es wichtig, weiterzuschreiben. Darum ist es okay, unbelastet von der Außenwelt Bücher zu lesen, aus keinem anderen Grund als dem, dass es euch gut tut.
Geschichten spenden Trost
Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber in schwierigen Zeiten waren Bücher immer meine Zuflucht. Sie waren für mich da, wenn sonst niemand da war (wie in der Unterstufe oder in den vielen Stunden in den Öffis auf dem Weg in die Schule) und in Zeiten großer Unsicherheit (wie iwährend meines Krebses).
Damit bin ich nicht allein: Menschen verlangt es nach Geschichten. Warum das so ist, aben wir an anderen Stelle untersucht. Aber sie lenken ab. Sie lenken negative Emotionen um und verschaffen uns Erleichterung. Und sie machen das Unerträgliche um genau jenes Maß erträglich, das uns weitermachen lässt.
Wenn ich schreiben soll, gerade lustige Wohlfühlliteratur, frage ich mich oft. wozu? Doch auch ein Clown tritt auf und lacht, obwohl ihm zum Weinen ist. Das ist unsere Aufgabe, mehr noch als die Möglichkeiten, der Aufklärung, der Erziehung und der Alternativbewertung.
Geschichten sind da, wenn der müde Geist Entlastung braucht. Unsere Buchwelten sind da, wenn es keine Fluchtmöglichkeiten sonst gibt. Unsere Figuren sind da für alle, die einsam sind. Wir sind nicht allein. Das ist Buchmagie. Alles andere ist Beiwerk.
Die Macht der Geschichte
Geschichten verändern uns. Ich bin überzeugt, dass die Romanfiguren meiner Jugend mich mehr als meine realen Freunde geprägt haben, deren Gedankenwelt auch so viel vollständiger und näher erlebt wird als das, woran mich reale Begegnungen teilhaben lassen. Figuren, die mir Vorbild oder eben auch Abschreckung waren. Wir lernen am Beispiel unserer Buchhelden viel mehr als von ihren Monologen.
Damit wecken und stärken Geschichten unsere Zivilcourage, wenn es darum geht, Herausforderungen zu meistern. Schreibt also gerade in kalten, dunklen Zeiten von Licht und Wärme. Es ist nicht nur richtig, einfache und schöne Geschichten zu erzählen, es ist wichtig. Sie halten den Glauben wach, dass es das gibt!
Ich kann in meinen Büchern unter Laborbedingungen über die Struktur eines komplexen Problems nachdenken, weil ich die Faktoren und den Rahmen bestimmen kann. Und erstaunlich oft lassen sich Lösungen, die in einer High Fantasy Welt funktionieren, auch in unsere Welt übertragen. Inspiration ist machtvoll.
Bücher sind die Tankstellen, wo wir Inspirationen und Kräfte sammeln, um unsere Welt da draußen zu meistern. Sie liefern das Feuerzeug, mit dem wir das Licht entfachen können, um die dunklen Zeiten zu beenden.
Seid da!
In Zeiten von Krankheit, in Zeiten kultureller Umbrüche und in Zeiten realer existenzieller Bedrohungen wie Kriegen und Klimawandel – ich glaube, Geschichten sind wichtiger denn je.
Seid also da! Das ist die Verantwortung der Schreibzunft.
Und all jenen, die wie ich nicht wissen, was sie noch lesen mögen, sei gesagt: Habt Vertrauen in die Buchmagie. Ich habe letztens ein Geburtstagsgeschenk für mein Patenkind gesucht und war dafür natürlich in einer Buchhandlung. Dabei fiel mir eher zufällig (weil es falsch eingeordnet war) ein Erstlesebuch in die Hand, das wirklich pfiffig zeigte, wie Dinge, die augenscheinlich gar nicht zusammenpassen, eben doch ein sinnvolles Neues bilden können. Ein herrliches Buch, das förmlich dazu zwingt, in diese Richtung weiterzudenken. Spiritus für die Flamme der Kreativität. Um mich festzulesen, war das Buch zu kurz, aber ich hätte ewig darin blättern können. Den Rest des Tages habe ich dann bei jeder Gelegenheit über dieses Buch gesprochen. Zuerst mit meiner Kollegin, die mich gefragt hatte, was ich in der Buchhandlung gekauft hatte. Dann mit allen anderen, ob sie wollten oder nicht. Und jetzt mit euch!
Es dauerte, bis ich erkannte, dass es gar nicht um das Buch geht. Es geht um das Entdecken, das mir gefehlt hat. Das Buch hat mich gefordert, es hat mich unvorbereitet erwischt und mir – Show don’t tell – gezeigt, worauf es bei einer Geschichte ankommt: Wir müssen staunen, sie machen uns offen für Überraschungen, für neues, sie zeigen uns, dass Spannungen auch gelöst werden. Und sie bewegen uns. Erst emotional und dann eben auch kreativ. Ich bin nicht die Zielgruppe dieses Buchs, aber es gab mir das, was ich dringend brauchte: Den Glauben an die Kraft der Geschichte, die gar nicht so kompliziert ist, sondern ganz simpel: Sei offen. Bleib faszinierbar. Alles andere findet sich. In dir!
Darum macht euch locker! Lest nicht nach dem Kopf, eurem Gewissen und vorgegebenen Zielen (das funktioniert schon in der Schule nicht), sondern nach eurem Bauch und Herzen, die allen Platz bieten, den eine Geschichte braucht, um zu wirken! Buchmagie ist mächtig.
Fantasie, die Kraft nie dagewesenes zu ersinnen, ist das Mittel, das uns unsere Welt im Guten wie Schlechten gestalten lässt. Geschichten sind Portale in Welten, in denen wir all das finden, was wir hier in dunklen Zeiten gerade vermissen.
Und das ist skoutzig.